Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 6 - Feuerfluch
hockte und sie durch die Nacht beförderte. Das Boot hatte vorn eine einzige Lampe, die fast komplett abgedeckt war und gerade genügend Licht spendete, um die Ufer des Flusses zu sehen. Der Motor arbeitete nahezu lautlos. Es war nur ein tiefes Pochen zu hören und Jamie fragte sich, ob die Maschine irgendwie umgebaut worden war, damit sie gedämpfter lief. Er starrte wie gebannt in das schwarze Wasser. Es war wie seine eigenen Gedanken – man ließ beides besser hinter sich zurück.
In den ersten Stunden nach ihrem Aufbruch sagte keiner von ihnen ein Wort. Es bestand immer noch die Gefahr, dass die Polizei sie überholte und sich ihnen in den Weg stellte. Erst als der Fluss sie um einen Hügel herumbefördert hatte und eine Landmasse zwischen ihnen und dem Dorf lag, brach der Reisende schließlich das Schweigen.
„Du solltest dich hinlegen“, sagte er. „Morgen wird ein langer Tag.“
„Ich kann nicht schlafen“, sagte Jamie. Er schaute sich um. Das Dorf brannte. Sogar von der anderen Hügelseite aus konnte er den Feuerschein am Himmel sehen. Er warf Holly einen Blick zu und fragte sich, was sie wohl empfand. Er hatte dort nur ein paar Wochen verbracht, sie ihr ganzes Leben.
Aber Hollys Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Vielleicht konnte sie nicht begreifen, was passiert war. Vermutlich stand sie unter Schock. Sie stand reglos da, eine Hand an der Reling, die andere auf dem Dach der Kabine, und die Nachtkälte schien ihr nichts auszumachen. Dachte sie an George? Nun, das war jetzt vorbei. Sie drei hatten das Glück gehabt zu entkommen. Sie waren durch die Maschen geschlüpft, obwohl sich das Netz bereits zugezogen hatte.
„Einer von euch sollte uns Kaffee machen.“ Der Reisende deutete mit einer Kopfbewegung zur Küche. Die Kombüse. Irgendwo in seinem Hinterkopf erinnerte sich Jamie, dass man die Küche auf einem Boot „Kombüse“ nannte. „Wir müssen weiterfahren. Wenn sie merken, dass die Lady Jane weg ist, kann nur Gott uns noch helfen. Aber wenn es ihnen nicht auffällt, können wir fünfzig Meilen zurücklegen, bevor es hell wird.“
Da Holly sich nicht rührte, stieß Jamie die kleine Tür auf und ging die drei Stufen in den Wohnbereich hinunter.
Das Boot war lang, aber kaum eins achtzig breit. Deswegen sprach man von „Schmalbooten“. Jamie fand, dass auch „Quetschboote“ ein guter Name gewesen wäre. Die gesamte Inneneinrichtung war gestapelt: die Schränke, der Kühlschrank, die Arbeitsplatte, die beiden Betten und die Bänke, aus denen sich ein weiteres Bett herrichten ließ. Von einem Ende der Kajüte zum anderen führte ein schmaler Gang, in dem matte Glühbirnen ein schwaches Licht spendeten. Jamie konnte die Hindernisstrecke durch den Wohnbereich nur gebückt durchlaufen. Alles war an seinem Platz – Teller, Tassen, Töpfe und Pfannen, Messer, Werkzeug, Bücher und Landkarten, Gasflaschen für den Kocher –, aber trotzdem wirkte der Innenraum unordentlich und chaotisch. Die Lady Jane hatte sicher einmal gut ausgesehen. Sie war rot und grün gestrichen und die Böden und Wände bestanden aus poliertem Holz. Aber sie war alt. Der Reisende lebte schon zu lange auf ihr. Es gab kein frisches Wasser mehr, um sie sauber zu halten, und obwohl die Toilette und die Dusche noch vorhanden und in dem winzigen Bad tatsächlich übereinandergestapelt waren, funktionierte beides schon seit Jahren nicht mehr.
Jamie füllte den Kessel mit Wasser aus einer Plastikflasche, die im Ausguss stand, und machte Kaffee, wie ihm gesagt worden war. Doch erst als er die Kaffeedose öffnete, wurde ihm klar, dass der Reisende Holly einen ungeahnten Luxus ermöglichte. Im Dorf hatte es nie Kaffee gegeben. Rita und John hatten einen widerlichen bitteren Tee getrunken, der aus Eicheln gemacht wurde. Bemerkenswert war auch, dass es einen Gaskocher gab – ganz zu schweigen von dem Treibstoff, der sie auf dem Fluss vorantrieb. Jamie fragte sich, welche anderen Geheimnisse die Lady Jane wohl verbarg.
Und wer war der Reisende? Matt hatte gesagt, dass er ihm vertrauen konnte. Aber Jamie kannte immer noch nicht seinen Namen, wusste nicht, woher er kam, oder sonst etwas über ihn.
Es würde eine Weile dauern, bis das Wasser kochte. Die Flamme war winzig und die Flasche vermutlich fast leer. Jamie ließ den Kessel auf dem Herd stehen, ging in der Kabine herum und öffnete Schränke und Schubladen. Ihm war klar, dass sich dieses Herumschnüffeln nicht gehörte, aber er hatte trotzdem kein schlechtes Gewissen. Der
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