Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 6 - Feuerfluch
entdecken. Das beunruhigte Jamie. Er wusste, dass etwas nicht stimmte. Das war schon bei ihrer letzten Begegnung deutlich gewesen und er hätte fast alles dafür gegeben, ein paar Minuten mit ihm allein zu sein – in dieser Welt oder irgendeiner anderen. Auch Matt und die anderen schienen fortgegangen zu sein. Jamie fragte sich, wie lange es wohl tatsächlich her war, seit sie sich getroffen und miteinander geredet hatten, aber er wusste auch, dass sich das unmöglich definieren ließ. In der Traumwelt verlief die Zeit anders. Auch wenn es sich anfühlte, als wären erst ein paar Sekunden vergangen, konnte es ebenso gut eine Woche gewesen sein oder vielleicht ein Monat.
Jamie hasste und fürchtete die Traumwelt, obwohl er natürlich wusste, dass sie irgendwie auf seiner Seite war. Er erinnerte sich an den merkwürdigen Goldsucher, der ihm am Strand erschienen war und ihn gewarnt hatte: „Sie werden ihn töten.“ Wieso war ihm der Typ so bedrohlich vorgekommen? Wieso hatte er nicht einfach zu ihm kommen und ihm erklären können, was Sache war? Und außerdem – wieso war diese Welt so grau und deprimierend? Er ließ den Blick über die leere Landschaft schweifen und schauderte. Hier zu sein war, als wäre man tot.
Er hörte leise Schritte im Staub und fuhr panisch herum, doch dann beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Es war Matt, der ganz allein auf ihn zukam. Jamie war froh, ihn zu sehen. Es lag nicht nur daran, dass sie sich in London und später auf ihrer Reise nach Hongkong angefreundet hatten. Matt war auch der unbestrittene Anführer der Torhüter und Jamie war sicher, dass Matt wusste, wie alles endete, und sie lebendig dort herausholen würde.
Die beiden sahen sich an.
„Hi, Jamie“, sagte Matt.
„Hi.“ Einen Moment lang herrschte Stille. Jamie wusste nicht, was er sagen sollte. Wie viel wusste Matt bereits? „Ich bin aus dem Dorf entkommen“, berichtete Jamie. „Jemand vom Nexus hat mich gefunden.“
„Ich weiß. Alles geschieht so, wie es vorherbestimmt ist. Aber es gibt da noch etwas, das ich dir sagen muss. Vor dem ich dich warnen muss.“
Wie merkwürdig. War das aus Matt geworden? Noch eine von diesen kryptischen Warnungen, die die Traumwelt auf ihn losließ?
„Deine Reise wird nicht einfach werden, Jamie. Und London wird noch schlimmer. Die Alten wissen von der Tür in St. Meredith’s und haben sie umstellt.“
„Funktioniert die Tür?“
„Noch nicht. Alle Türen sind verschlossen.“
„Und wieso soll ich dann unbedingt dorthin?“
„Sie werden sich öffnen – demnächst. Deswegen musste ich dich treffen. Du musst den richtigen Moment erkennen, um in die Kirche zu gehen und durchzubrechen. Du darfst nicht zögern. Du musst genau den richtigen Augenblick erwischen.“
„Woher soll ich wissen, wann es so weit ist?“
Matt lächelte, aber in seinem Gesicht war nicht das geringste Vergnügen zu erkennen. Jamie hatte ihn noch nie so betrübt erlebt. „Du wirst es wissen. Du bekommst ein Zeichen. Wenn du es siehst, legst du los, und wenn alles so läuft, wie ich hoffe, wirst du die Antarktis erreichen.“
„Wirst du auch dort sein?“, fragte er. „Und Scott?“
„Jamie, ich kann deine Fragen nicht beantworten. Ich kann dir nur sagen, dass alles so geschehen wird, wie es vorherbestimmt ist.“
„Aber ich habe das Recht, es zu wissen!“ Jamie spürte eine Emotion in sich aufsteigen, die er nicht genau bestimmen konnte. War es Ärger oder Traurigkeit? „Was stimmt nicht mit Scott? Bei unserer letzten Begegnung hat er kaum mit mir gesprochen. Und diese Sachen, die er anhatte …“ Jamie verstummte. „Und was ist mit dir, Matt? Woher weißt du plötzlich so gut über alles Bescheid? Was ist mit dir passiert?“
Matt lächelte. „Ich war in der Bibliothek.“ Er zögerte kurz. „Das ist das letzte Mal, dass wir miteinander sprechen, bevor alles zu Ende ist“, sagte er. „Ich denke an dich auf der Lady Jane. Und in London. Vergiss nicht – warte auf das Zeichen. Versuch nicht, vorher etwas zu unternehmen. Und wenn du es siehst, verschwende keine Zeit!“
„Warte, Matt …“
Aber dann schlug Jamie die Augen auf und war wieder auf dem Boot. Holly schlief in der Koje gegenüber und sie tuckerten immer noch den Fluss hinunter. Matt war verschwunden und ein neuer Tag begann.
6
Der Gedanke an Georges Tod machte mich fertig. Mir war schlecht, ich fühlte mich elend und auch schuldig, denn obwohl so viele Menschen gestorben waren, war George der Einzige,
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