Hostage - Entführt
sich schuldig.
»Soll ich sie vor deinem Haus oder beim Revier absetzen?«
»Lieber beim Haus.«
»Um sechs?«
»Um sechs. Vielleicht können wir zusammen essen?«
»Ich fahr gleich weiter.«
Als sie eingehängt hatte, legte Talley das Handy beiseite und dachte an den Traum. Es war immer der gleiche: Ein kleines, mit Schindeln gedecktes Haus war von einem kompletten SEK umstellt. Hubschrauber standen in der Luft, Journalisten drängten sich hinter der Absperrung. Talley war Chefunterhändler in diesem Albtraum und stand ohne Deckung und Schutzweste vor dem Haus, während Jane und Amanda von der Absperrung her zuschauten. Talley sprach mit einem unbekannten Mann, der sich verschanzt hatte und mit Selbstmord drohte. Es war ein Gespräch um Leben und Tod. Der Mann schrie immer wieder: »Ich bring mich gleich um!« Jedes Mal hielt Talley ihn mit Worten davon ab, wusste aber auch, dass der Mann nun noch näher am Abgrund stand. Es war nur eine Frage der Zeit. Niemand hatte den Mann gesehen. Es ließen sich weder Nachbarn noch Angehörige auftreiben, um ihn zu identifizieren. Und er gab seinen Namen nicht preis. Für alle war er eine Stimme hinter Mauern. Nur nicht für Talley. Der wusste, dass der Mann im Haus er selber war, und seine Angst wurde immer betäubender. Er war der Verschanzte. An einen Fleck gebannt stand er da und erlebte in einer Zeitschleife immer wieder das Gleiche – dass er mit sich selbst verhandelte, um sein Leben zu retten.
Brendan Maliks Augen hatten Talley in den ersten Wochen aus jedem Halbdunkel angeschaut. Immer wieder hatte er gesehen, wie das Leben in ihnen langsam erlosch und nur noch nachleuchtete. Wie die Mattscheibe, wenn man den Apparat ausschaltet. Brendan Maliks Lebensfunke war immer schwächer geworden und dann im Dunkel verglüht. Nach einer Weile hatte Talley dabei nichts mehr gefühlt und war der Erinnerung an Brendans sterbende Augen so abgestumpft begegnet, wie er sich ›Glücksrad‹ im Fernsehen ansah – er glotzte eben, was lief.
Talley hatte bei der Polizei von Los Angeles gekündigt und danach fast ein Jahr auf seinem Sofa gesessen – erst zu Hause, dann – nachdem Jane ihn rausgeworfen hatte – in einer billigen Mietwohnung in Silver Lake. Anfangs hatte Talley sich eingeredet, er habe seine Familie verlassen, weil er es nicht habe ertragen können, dass Jane und Amanda Zeuginnen seiner Selbstzerstörung wurden. Doch nach einiger Zeit stellte er allmählich fest, dass seine Motive viel einfacher und weniger edelmütig waren: Er glaubte, sein früheres Leben brachte ihn langsam um. Und er hatte Angst. Dann suchte die Gemeinde Bristo Camino einen Polizeichef für ihre vierzehn Ordnungshüter und war froh, Talley einstellen zu können. Dass er beim SEK gewesen war, gefiel den Leuten, obwohl die Arbeit in Bristo nur verlangte, Verkehrssündern Strafmandate zu verpassen und in den Schulen Präventionsarbeit in Sachen Drogen zu leisten. Talley sagte sich, die Arbeit in Bristo sei gut für seinen Heilungsprozess. Jane hatte auf seine Gesundung warten wollen, aber es sah aus, als ginge es mit seiner Rekonvaleszenz nicht recht voran. Inzwischen glaubte Talley, damit würde es nie mehr etwas.
Er ließ den Wagen an, fuhr über die gewalzte Erde des Feldwegs aus der Plantage, bog auf eine Schotterstraße ein und folgte ihr bis zum Highway, der das Santa Clarita Valley der Länge nach durchzog. Kaum auf der Schnellstraße, drehte er den Polizeifunk laut und hörte Sarah Weinman, die Telefonistin seines Reviers, aufgebracht rufen:
»… Welch hat's erwischt – in York Estates …«
Durch das Knistern in der Leitung drangen die Stimmen der angefunkten Kollegen – Larry Anders und Kenn Jorgenson redeten wirr und hektisch durcheinander.
Talley drückte den Knopf, der ihn als Revierleiter auf einer eigenen Frequenz mit der Telefonzentrale verband.
»Sarah, hier Wagen eins. Was soll das heißen – Mike hat's erwischt?«
»Chief?«
»Was ist mit Mike?«
»Er wurde angeschossen. Der Rettungswagen aus Sierra Rock ist unterwegs. Jorgy und Larry kommen von Osten.«
In den neun Monaten, die Talley jetzt die Polizei in Bristo leitete, hatte es nur drei schwere Straftaten gegeben. Zwei davon waren unbewaffnete Einbrüche gewesen. Im dritten Fall hatte eine Frau versucht, ihren Ehemann mit dem gemeinsamen Auto zu überfahren.
»Soll das heißen, er wurde absichtlich angeschossen?«
»Junior Kim ist auch niedergeschossen worden! Von drei weißen Männern in einem
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