Hotel Mama vorübergehend geschlossen
mit ergebener Miene zugesehen hatte, wie ihre Mutter zum zweitenmal die ganzen 280 Seiten durchzublättern begann, »vielleicht findest du ja auch mal ein Ziel außerhalb von Europa. Oder habt ihr schon irgendwelche Urlaubspläne für den Sommer?«
»Haben wir welche, Antoinette? Für den Sommer?«
»Nicht daß ich wußte«, kam es kichernd zurück, und nun bestand für Tinchen gar kein Zweifel mehr: Die beiden waren betrunken. Oder zumindest reichlich angeschickert. Antoinette – was sollte dieser Unsinn? Zwar hatte Frau Klaasen-Knittelbeek ein Faible für Romane, die im 19. Jahrhundert spielten, als man noch Louise oder Amelie hieß und in Gegenwart des Personals französisch sprach, doch als sie diesen Brauch im Zweipersonenhaushalt Pabst wieder aufleben lassen wollte, hatte Frau Antonie nur gelacht. »Erstens ist mein Französisch viel zu eingerostet und mein Vokabular auf den Gegebenheiten von 1938 stehengeblieben, zweitens haben wir kein Personal und drittens keine Familieninterna, die wir vor ›Zweitens‹ verheimlichen müssen.«
»Aber Pavla …«
»… darf ruhig hören, wenn ich Frau Helmers neues Kostüm kritisiere; wie kann sie denn auch bei ihrem blassen Teint Hellgrün tragen?«
Frau Klaasen-Knittelbeek hatte sich also damit abfinden müssen, daß Frau Antonie für die gute alte Zeit offenbar nichts übrig hatte und auch nicht Antoinette genannt werden wollte, obwohl das doch viel eleganter klang. Na ja, sie las ja auch lieber die dicken Wälzer von Rosamunde Pilcher, in denen die Frauen in rustikaler Kleidung am Meer spazierengehen und dem Tosen der Brandung lauschen.
»… und vergiß auch nicht, gleich Bescheid zu geben, ob ihr auch gut angekommen seid«, forderte Frau Antonie, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß Tinchen auch wirklich Frau von Rothenburgs Telefonnummer notiert hatte, weil doch diesmal der Canasta-Abend bei ihr stattfand.
»Wenn wir nicht angekommen sind, erfährst du's schon früh genug aus'm Fernsehen!« Nach einem verstohlenen Blick auf die Uhr stand Tinchen auf und öffnete das Fenster. Manchmal half das ja. Diesmal nicht. »Du hast recht, Kind, es ist wirklich sehr warm hier drin«, sagte Frau Antonie und vergaß völlig, daß sie die kühle Luft im Rücken sonst gar nicht vertrug.
»Frau Tina stimmt sich schon auf die tropischen Temperaturen ein«, vermutete Frau Klaasen-Knittelbeek und zog die Wolldecke ein bißchen näher zu sich heran. »Wohl dem, der dieser unfreundlichen Witterung entfliehen kann.«
»Warum tun Sie's denn nicht?« entfuhr es Tinchen.
»Ach, in unserem Alter entschließt man sich nicht mehr so leicht zu derartigen Exkursionen, nicht wahr, liebe Antonie?«
Die nickte nur mehrmals mit dem Kopf, konnte jedoch ein verstohlenes Lächeln nicht unterdrücken, und prompt kicherte auch Frau Klaasen-Knittelbeek wieder los. Sie vertragen eben keinen richtigen Alkohol mehr, entschied Tinchen, im Haus ihrer Mutter standen nur Liköre im Büffet und zwei Sorten Magenbitter. Karsten hatte mal eine Flasche Remy mitgebracht, doch die hatte seine Mutter sofort aus dem Verkehr gezogen. »Danke, mein Junge«, hatte sie gesagt, »bei einem Schwächeanfall kann ein Schluck Weinbrand ein wahres Lebenselixier sein«, und dieses Elixier im Abstellraum neben das kleine Schränkchen gestellt, in dem all die Sachen deponiert waren, die wegen ihrer Größe nicht in die reguläre Hausapotheke im Bad paßten, Franzbranntwein zum Beispiel oder der kleine Kanister mit dem Desinfektionsmittel.
»Hoffen wir bloß, daß der Notfall nie eintritt«, hatte Karsten gemurrt, »wer sucht denn schon den Kognak in der Besenkammer?«
Als Florian kurz vor Mitternacht nach Hause kam, fand er sein Tinchen am Küchentisch über einem Kreuzworträtsel grübelnd, neben sich eine Tasse mit abgestandenem Kaffee. »Weißt du, was ein Kasuar ist?«
»Ich glaube, ein Vogel, aber sag mir lieber, warum du …«
»Das habe ich auch gedacht, bloß kenne ich keinen Vogel mit drei Buchstaben. Der kürzeste, der mir einfiel, war Eule, und die hat vier.«
»Wie wär's stattdessen mit Uhu?« Er nahm ihr die Zeitschrift aus der Hand und klappte sie zu. »Was soll denn der Quatsch? Weshalb schläfst du nicht längst?«
»Weil wir noch Besuch haben, und weil es unhöflich ist, vor seinem Besuch ins Bett zu gehen.« Sie gähnte ausgiebig. »Wie spät ist es eigentlich?«
Doch das hatte Florian schon nicht mehr gehört. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht, war den Flur entlang zum Wohnzimmer
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