Hotel Mama vorübergehend geschlossen
sei ihr gar nicht mehr kalt vorgekommen, weil man beim Klettern ohnehin ins Schwitzen geriet, sie würde diese Tour sofort noch einmal machen, und wo es denn jetzt bitte sehr etwas Warmes zu trinken gäbe?
Diesen Wunsch hatte vor ihr offenbar noch niemand geäußert. Man konnte wählen zwischen gekühlten Erfrischungsgetränken, Eis am Stiel und sogar jener schaumlosen Plörre, die die Insulaner für Bier hielten. Kaffee und Tee gäbe es auch, allerdings nur unten, also dort, wo sie gerade hergekommen waren. Tinchen verzichtete dankend auf alles und fror weiter.
Frau Antonie dürfte die einzige gewesen sein, die einen Blick für die Schönheit dieser Wasserfälle gehabt hatte. Mal schlängelt sich der Dunn River eng zwischen den Bäumen hindurch, gesäumt von der in unzähligen Grüntönen schillernden üppigen Vegetation, mal fällt er in Wasserkaskaden auf rundgeschliffene Felssteine und verwandelt sich in ein großes Schaumbad. Ab und zu gibt es dort, wo die Sonne durch das dichte Laubdach fällt, einen kleinen Regenbogen, dann wieder diffuses Dämmerlicht mit plötzlichen Sprühnebeln. Natur pur. Würde man nicht ständig das Rufen und Lachen der Kletterer hören, auch wenn man sie wegen des undurchdringlichen Gebüsches manchmal gar nicht sehen kann, könnte man glauben, irgendwo mitten im Dschungel zu sein. Doch, dieses gleichmäßige Aufwärtssteigen auf dem gut gesicherten Weg parallel zum Fluß hatte Frau Antonie so gut gefallen, daß sie ihre Begleiterin gar nicht vermißt hatte und später auch nicht wußte, wo sie ihr eigentlich abhanden gekommen war. »Auf diesem Weg kann sich doch niemand verlaufen!«
Hatte sie auch nicht. Ihr Fotoapparat hatte Ladehemmung gehabt, ein liebenswürdiger älterer Herr Voss, Tourist aus Jena, war ihr behilflich gewesen und hatte darauf bestanden, sie bis zum Wiederauffinden ihrer Verwandten zu begleiten. Zu Frau Klaasen-Knittelbeeks heimlichem Bedauern war das viel zu früh geschehen, sie hatte gerade noch Zeit gehabt, jenem Herrn scheinbar beiläufig ihren derzeitigen Aufenthaltsort mitzuteilen sowie das Abreisedatum, zum Glück noch neun Tage weit entfernt. Herr Voss war erst seit Mittwoch auf Jamaika und fühlte sich noch etwas fremd, was Dorothee verstehen konnte. Man wußte ja, daß in der ehemaligen DDR die englische Sprache vernachlässigt worden war, und mit Russisch würde Herr Voss hier nicht viel anfangen können. Wenn sie vielleicht behilflich sein könnte … Das Ocean View Hotel, in dem er wohnte, lag nicht einmal fünf Taximinuten entfernt vom Palmbeach Club, sie waren schon häufig daran vorbeigefahren.
Im Gegensatz zu Tinchen und Florian, die Herrn Voss freundlich zunickten und sich dann nicht weiter um ihn kümmerten, wurde Frau Antonie sofort hellhörig. Sie musterte ihn von oben bis unten, bevor sie sich ein Lächeln abringen konnte. »Vielen Dank, das war sehr aufmerksam von Ihnen. Guten Tag.«
Herr Voss verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung, und als er außer Hörweite war, zog Frau Antonie die leicht errötende Frau Klaasen-Knittelbeek zur Seite. »Es gibt Frauen, Dorothee, die werden deshalb nie achtzig, weil sie viel zu lange versuchen, vierzig zu bleiben!
Sie
benehmen sich heute wie fünfundzwanzig!«
Anderthalb Stunden später saßen sie wieder im Auto. Zehn Minuten hatten sie für den Rückweg zum Parkplatz gebraucht, fünfzig Minuten für die Suche nach dem Wagen, und die restliche Zeit, um den Fahrer aufzustöbern. Der hatte nämlich zusammen mit anderen Brothers eine kleine Siesta gehalten, ein bißchen was getrunken, ein bißchen Gras geraucht, und nun hatte er eigentlich noch ein bißchen schlafen wollen, doch daraus schien diesmal nichts zu werden. Mühsam rappelte er sich auf, zog einen Kaugummi aus der Tasche, wickelte ihn aus und schob ihn in den Mund. Vielleicht nützte er was. Die Touristen reagierten immer so merkwürdig, wenn sie mitbekamen, daß er nach Rum roch. Na und? Wer tat das denn nicht auf dieser Insel?
Diesmal hatten seine Gäste nichts bemerkt. Bis auf Florian, doch der sagte nichts, sondern blinzelte Bobby nur verständnisvoll zu. Was blieb den Jungs denn sonst? Die Armut war unübersehbar, und wenn auf dieser Insel dank ihrer Fruchtbarkeit auch niemand direkt hungern mußte, so hatten die meisten ihrer Bewohner kaum Zukunftsperspektiven. Natürlich lebten viele vom Tourismus, waren dankbar für den Job in einem der zahlreichen Hotels, doch der Verdienst reichte gerade zum Überleben, und die
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