Hotel Mama vorübergehend geschlossen
die Bühne. Sie trugen einen prächtigen silbernen Federbusch auf dem Kopf, der ihnen allerdings ständig ins Gesicht rutschte und die Sicht nahm. Zwischen zwei Pferdchen war der Abstand viel zu gering, denn bei jeder Verbeugung streifte das eine Pferd mit seinem Schwanz und den Rockfransen dem dahinter tänzelnden Pferdchen über's Gesicht. Dem wurde das schließlich zu dumm, erbost schnappte es sich den Schwanz des Störenfrieds, riß ihn ab und schleuderte ihn zur Seite. Darauf drehte sich das erste Pferd um, riß nun seinerseits dem anderen den Schwanz aus, drosch damit auf seinen Federbusch und warf ihn beiseite. Das Publikum brüllte vor Lachen und konnte sich auch dann nicht beruhigen, als schon längst der Vorhang gefallen war.
Wieder Musik, ganz andere diesmal, schneller und lauter, Trompeten und Trommeln signalisierten das große Finale. Der Vorhang gab den Blick frei auf herumhüpfende Häschen und den Flokati-Hund, auf Bauern, Turnerinnen und die wieder halbwegs restaurierten Zirkuspferde. Jetzt erhob sich auch König Tim von seinem Thron und gesellte sich zu seinen tanzenden Untertanen; weitausholende Gebärden sollten majestätisches Wohlwollen ausdrücken, doch das hielt nicht lange an. Bald tanzten nämlich zwei Häschen und ein Bauer auf der königlichen Schleppe herum, während Tim vergebens versuchte, zur Mitte der Bühne vorzudringen. Tapfer kämpfte er sich nach vorn, wurde jedoch vom Halsverschluß seines Umhangs so festgehalten, daß sein Gesicht schon rot anlief. Ein Pferd kam ihm zu Hilfe, faßte die Schleppe mit beiden Händen und zog mit einem so kräftigen Ruck daran, daß die Häschen durch die Gegend purzelten. Endlich frei, schritt der König zur Rampe vor und lächelte huldvoll ins Publikum; mit einem Arm hielt er die Schleppe, mit dem anderen verwies er auf seine Mitspieler.
Die Zuschauer klatschten wie verrückt, pfiffen, sprangen von den Sitzen, es gab standing ovations und ein halbes Dutzend Vorhänge, bis König Tim von seiner Rolle als stumme Majestät abwich. »Nu' reicht's, jetzt könnt ihr nach Hause gehn!« Erneutes Gelächter, dann fiel der Vorhang zum letztenmal.
In dem dann ausbrechenden Gewimmel verlor Tinchen die anderen, fand sie jedoch bald, jeder etwas anderes kauend, im ›Speisesaal‹ stehend wieder. Björn schaufelte Nudelsalat – pro Portion zwei Mark, Brötchen inklusive –, Florian den aus Wurst, aber nicht den Knopp'schen, denn der hatte fast nur aus Bierschinken bestanden, und Thorsten spuckte Kerne, die er auf dem Tellerrand dekorierte. »Wenn meine Mutter Kirschkuchen bäckt, sind nie welche drin!«
»Den zahlste ja nicht!« sagte Björn, »der hier kostet ungefähr zehn Pfennig pro Kirsche, also kannste auch unversehrte Früchte erwarten!«
»Meckert nicht, von dem Erlös werden wieder Dinge angeschafft, für die normalerweise kein Geld da ist«, erinnerte Tinchen, die Pelle vom Rand der zwei Wurstscheiben ziehend, mit denen ihre Brotscheibe belegt war, »die hätten sie aber wirklich vorher abmachen können.«
Ein Elternpaar nebst Zirkuspferd räumte seine Plätze, und sofort stürzte Florian darauf zu. »Ich will doch noch eine Tasse von der Zigeunersuppe essen, aber nicht im Stehen! Zu gefährlich! Mir hat auch schon mal jemand heiße Brühe über den Anzug gekippt!«
Das war Tinchens Stichwort! »Kalter Kartoffelsalat in den Haaren ist mindestens genauso unangenehm!« Nachdem sie ihre detaillierte Schilderung mit »Ob wir jetzt wohl sämtliche Hunde der Nachbarschaft im Vorgarten haben?« beendet hatte, schlug Thorsten vor, diese Story als Einleitung zu nehmen. »Wie lang darf die Besprechung denn werden, Herr Bender?«
»Maximal zwei Spalten, mehr ist auf der Lokalseite nicht drin, und ins Feuilleton kommt sie bestimmt nicht. Unser Kulturapostel hatte sogar den
Rolling
Stones
jeden künstlerischen Anspruch verweigert und die Rezension ihres Open-Air-Konzerts neben die Anzeige eines Beerdigungsinstituts plaziert. Ganz zufällig natürlich. Später hat er das widerrufen und behauptet, da gehörten diese Berufsjugendlichen doch hin.«
Nun wurde Tinchen auch klar, weshalb Thorsten überhaupt hier war, in der Regel findet man fünfzehnjährige Jungs nicht gerade auf einem Kindergartenfest. Während Florians Schilderung jenes Abends in der Redaktion hatte sie nur halb hingehört und nicht mitgekriegt, wie begeistert der Junge gewesen war, was er alles hatte wissen wollen und wie sehr er jeden, den er zu fassen bekam, mit Fragen gelöchert hatte.
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