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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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Hause dürfen, müssen wir uns in einer anderen Schule einschreiben, es heißt, das erste Halbjahr dürfe nicht versäumt werden.
     
    *
     
    Auf dem Hauptbahnhof von Zagreb wartete ein Onkel auf uns. Wir fuhren durch die Stadt, die im Herbstlicht zu leuchten schien. Das Haus des Onkels war weit vom Zentrum entfernt, und mir kam es so vor, als hätten wir die Stadt längst wieder verlassen, aber dann erfuhr ich, dass das alles Zagreb war. Die Stadt war also so groß. Unsere Verwandten lebten in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Souterrain. Uns brachten sie im oberen Stockwerk unter, wo alles leer stand. Ich schlief in der Regel unten bei meinen Cousinen, nur dann nicht, wenn wir uns gestritten hatten. Anfangs hatten wir es sehr schön miteinander. Mein Bruder und ich wurden von allen umgarnt, und in der neuen Schule mussten wir fast nie lernen. Ich bekam ohnehin immer Einsen.
    An einem Nachmittag, meine Cousine und ich waren gerade auf dem Weg nach Hause und liefen auf einer Kiesstraße, hörten wir plötzlich das Heulen der Sirene, es war ein Luftalarm. Ich fing an zu schreien und zu weinen. Wir bekamen Panik und rannten in das nächstbeste Nachbarhaus. Es ist damals nichts weiter passiert, doch es hatte eine neue Zeitrechnung begonnen.
    In der Wohnung unserer Verwandten wurde es immer enger. Als ich einmal das Badezimmer benutzen wollte, hinderte meine ältere Cousine mich daran, bat kurz um Verzeihung und sagte dann: »Das hier ist mein Haus, ich gehe da zuerst rein.« Und schon am nächsten Morgen, als wir gerade beim Frühstück saßen, sagte ihre jüngere Schwester zu meiner Mama: »Du isst uns noch das ganze Brot weg!« Am Anfang hatten sie ständig Kuchen gebacken, später nur noch zu besonderen Anlässen und dann gar nicht mehr. Dabei hatten wir ohnehin niemals den Kühlschrank aufgemacht, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Manchmal, wenn wir uns schlafen legten, drangen ihre Stimmen aus der Küche zu uns, und wir konnten genau verstehen, was sie miteinander sprachen. Vater meldete sich in der Regel alle drei Tage bei uns, aber nun waren schon ganze acht Tage ins Land gezogen, ohne dass wir etwas aus Vukovar gehört hätten.
    An den Samstagen trafen wir uns mit Željka und ihrer Mutter auf dem großen Marktplatz im Zentrum der Stadt. Wir umarmten und küssten einander, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Die beiden lebten wie wir bei Verwandten. Željkas und mein Vater waren zusammen in Vukovar geblieben. Wir versuchten uns immer wieder die Rückkehr in unsere Stadt auszumalen. Dann gingen wir einen Börek oder ein Eis essen. Auf dem Nachhauseweg schwiegen wir überwiegend.
    Am Anfang waren die Leute aus Zagreb einfach die besseren Menschen für uns. Sie waren schöner angezogen, sie promenierten auf breiter angelegten Straßen und großen Plätzen, sie fuhren mit der Straßenbahn und machten dabei auch noch einen völlig gelassenen Eindruck, als würden sie nichts Besonderes tun. Sie besaßen Toaster und Spülmaschinen, und in ihren Zimmerecken waren jede Menge Spinnweben. So sahen wir sie. Bald fuhren auch wir mit der Straßenbahn, kostenlos, mit einem gelben Kärtchen. Wir prägten uns die Strecken einiger städtischer Linien ein. Ich konnte den ganzen Tag lang herumfahren und dabei Salzstangen essen. Wir mussten ständig in irgendwelchen Amtszimmern vorstellig werden, zum Roten Kreuz und zur Caritas gehen, um unsere Lebensmittel abzuholen. Ich fand das alles sehr schön. Einmal bekamen wir von der Caritas eine Tasche voll mit Süßigkeiten und schleppten sie nach Črnomerc zur Straßenbahn, die rappelvoll war. Eine fein hergerichtete Dame, die in unserer Nähe stand, sagte laut zu ihrer Freundin, die ganzen Flüchtlinge seien an dem Gedränge in der Tram schuld. »Sie fahren nur hin und her, den ganzen Tag lang geht das so, immer nur hin und her.« Ich sah zu ihr hin und lächelte sie an, denn ich wusste ja, dass wir Vertriebene waren und keine Flüchtlinge, so wie die Menschen aus Bosnien.
    Nach zwei, drei Monaten Aufenthalt in Zagreb wurden ein paar Dinge schließlich für uns alle alltäglich. Es kam der Herbst, und die regnerischen Tage häuften sich. Langsam, aber sicher hörte das Ganze auf, für uns unterhaltsam zu sein. Die dreihundert Mark, die Mama mitgenommen hatte, waren inzwischen offenbar ausgegeben. Immer weniger Menschen kamen aus Vukovar heraus, die uns Nachrichten von unseren Verwandten überbrachten. Dann hörten wir eines Tages, die Alten seien umgebracht worden.

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