Hotel Nirgendwo - Roman
So nannten wir Papas Eltern. Abgeschlachtet. Das war das Wort. Ich hörte es sehr deutlich, während ich mich hinter dem Elektroherd versteckte, der zwischen Flur und Küche stand. Ich denke, die Erwachsenen wussten, dass ich dort war, taten aber so, als hätten sie mich nicht gesehen, und ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Dann wurden alle wieder sehr nett zueinander, und ich vergaß den Vorfall. Mama verschwand immer öfter im Bad und kam mit geschwollenen Augen heraus. Papa hatte schon eine ganze Weile kein Lebenszeichen von sich gegeben. In dieser Zeit beteten meine kleinere Cousine und ich ständig zu Gott. Wir knieten vor der Couch nieder und beteten, für alles, was uns einfiel, und zwar so lautstark, dass uns niemand, der sich in unserer Nähe befand, überhören konnte. Wir beteten für den Frieden, für die kroatische Garde, für die Stadt Petrinja, für Cäsar und Kleopatra. Dann machten wir einen Unsinn nach dem anderen und lachten uns krumm, da passten wir aber auf, dass uns niemand dabei beobachten konnte. Die Erwachsenen lobten uns für unsere Gebete, und ich erzählte allen, dass ich später Nonne werden wollte. Wir gingen sogar so weit, eine heilige Messe durchzuspielen.
Eines Tages platzte während einer unserer Séancen der Postbote herein. Er hatte einen Brief von Papa in der Hand. Er schrieb, dass es ihm gutgehe und dass er nicht verwundet sei, dass wir ihm sehr fehlten und wir uns alle bald wiedersehen würden. Die Erwachsenen befanden, dies sei ein gutes Zeichen, und wenn irgendjemand die Männer aus dieser Hölle befreien könne, so seien es unschuldig betende Kinder wie wir. Wir waren stolz auf uns. Ein paar Tage später verguckte ich mich in Luka. Er war meine erste Liebe, obwohl er in eine höhere Schulklasse ging. Ich gab damals die Sache mit der Nonne auf, aber noch lange danach betete ich ergeben zu Gott.
*
Ich kam nach der zweiten Pause nach Hause. Mama saß im Dunkeln und war auf dem Stuhl zusammengesunken. In den Abendnachrichten sagten sie nichts, aber nach der Wetterprognose ließen sie das Lied Meine Rose von Prljavo Kazalište laufen. Sie wusste sofort, was das bedeutete. Die Stadt war gefallen. Die Slowenen ließen die Meldung über Teletext laufen. Aber unsere kroatischen Medien schwiegen. Vielleicht wusste man nicht, was man den Menschen eigentlich sagen sollte.
Für uns scheint nun alles vorbei zu sein. Die Stadt ist gefallen, wer sich gerettet hat, der ist davongekommen. Was mit den anderen passiert, das weiß Gott allein. Meine Tante kommt und umarmt Mama. Sie sagt zu ihr, dass das nicht wahr sei, dass sie bestimmt lügen und dass die Slowenen kein Stück besser als die Serben seien. Vukovar ist gefallen, und das beunruhigt mich, weil ich nicht genau weiß, was das eigentlich bedeutet, und es kommt mir dumm vor, ausgerechnet jetzt danach zu fragen. Mama schickt mich ins Bett, und sie alle bleiben noch lange wach.
In den frühen Morgenstunden weckt uns das Läuten des Telefons. »Ich lebe, ich bin gesund, wir sehen uns bald.« Das war alles, was er gesagt hat. Kein Wort darüber, wo er sich befindet, wann wir uns sehen würden, von wo aus er uns anruft. Glücksübermannt springen wir auf den Betten herum. Wir umarmen uns. Wir küssen uns.
An diesem Tag gingen mein Bruder und ich nicht in die Schule. Wir zogen uns an und machten uns zusammen mit Mama auf den Weg in die Stadt. Von dem Geld, das wir noch hatten, kauften wir etwas Fleisch und ein paar Kuchenstücke in der Konditorei. Mama und meine Tante räumten den ganzen Nachmittag auf. Und am Abend fingen wir mit dem Warten an. Ich las ihnen aus ihren Tassen den Kaffeesatz und rannte jedes Mal zum Fenster, wenn ich ein Auto zu hören glaubte. Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, wurden wir nicht ins Bett geschickt. Wir nahmen an, dass Papa in Vinkovci war, dachten, dass dort Chaos und Unordnung ausgebrochen waren, vielleicht, so spekulierten wir, mussten alle durchsucht und irgendwie kategorisiert werden, möglicherweise musste man Fahrgelegenheiten finden und all solche Dinge. Schließlich gingen wir drei nach oben, Mama machte am Fenster eine Kerze an und blieb noch lange auf. Am nächsten Tag mussten wir zur Schule. Lidija, die mit mir in einer Klasse war, erzählte, ihr Vater hätte sich erst vorgestern herausgekämpft. Sie sagte, mein Vater sei bestimmt gefangen genommen worden. Ich rief nach dem Lehrer. Ich wollte nicht mehr neben ihr sitzen.
*
Unter dem Weihnachtsbaum lag
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