Hotel Nirgendwo - Roman
Hotel befand. Der Himmel war rotrosa durchsetzt, und eine neue Art von Aufgeregtheit machte sich in uns allen breit. Natürlich war es kalt geworden und natürlich ließ ich absichtlich meine dicke Jacke in Marinas Zimmer zurück, weil ich nicht wusste, wo ich sie während des Tanzens im Club ablegen sollte; der andere Grund war die enge taillierte Baumwollweste, die ich trug und die mir sehr gut stand, meine Hose war am Hintern völlig abgetragen, aber beides wollte ich gern zur Schau stellen. Über den Arm hatte ich mir ein blaues Ledertäschchen geworfen und fühlte mich mindestens wie dreizehn, es gab immerhin Momente, da dachte ich, ich sei tatsächlich schon so alt. Rennend stürzten wir die Treppen hinunter, und auf der Straße holte Marina vorsichtig etwas aus ihrer Tasche heraus. Als sie es mir dann zuschob, lächelte sie. »Was machst du denn da, was ist das?«, fragte ich. – »Ach, das ist für später oder wenn jemand danach fragen sollte.« Sie hielt zwei Zigaretten der Marke York in der Hand, die sie ihrer Schwester geklaut hatte. Auch ich musste lachen, weil es mir nie vorher in den Sinn gekommen war zu rauchen, aber heute, dachte ich, stand das irgendwie an. Die Oase öffnete um zehn, und wir waren schon um zehn nach zehn dort, weil wir um Mitternacht wieder zu Hause sein mussten. Da wir unter den ersten waren, taten wir so, als würden wir nur ein bisschen herumspazieren, was wir so lange tun wollten, bis weitere Leute auftauchten, mit denen wir dann reingehen konnten. Wir wollten auf keinen Fall armselig erscheinen. Durch die bunte Milchscheibe der Eingangstür sahen wir ein paar Umrisse hinter der Bar und entschieden uns, zur Tat zu schreiten. »Los, wir gehen rein«, sagte ich. Der Geruch von Alkohol und Zigaretten wehte mir entgegen, zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich das als angenehm, und mir schwindelte ein bisschen. Von diesem Abend an hatte Aufregung immer den Geschmack von Wodka-Lemon und den Klang unseres übermütigen Lachens und des Hustens, den wir den zerknitterten York-Zigaretten verdankten. Damit begann unsere Befreiung und auf diese folgte die Zeit der großen Verwundungen.
An der Bar saßen zwei ältere Männer, der dritte, der bei ihnen stand, war klein und sah merkwürdig geschrumpft aus, als sei er zurückgeblieben. Man konnte beim besten Willen nicht erraten, wie alt er war. Als sie uns bemerkten, fingen sie an herumzualbern. »Was gibt’s so, ihr Bienchen, habt ihr Lust auf einen Tanz?«, stieß das kleine Rumpelstilzchen hervor, und wir sahen in diesem Moment, dass er blutunterlaufene Augen hatte. – »Der Typ ist eine Garante, tanzt mit ihm, los, tanzt mit ihm«, sagte der andere und ließ dabei seine gelben Zähne blicken. Wir taten so, als würden wir sie nicht hören. Wir waren enttäuscht, weil die drei Typen fast die einzigen Besucher des Discoclubs waren, aber allein die Tatsache, dass wir uns an einem derart legendären Ort befanden, der uns durch seine Aura den Erwachsenen ebenbürtig machte, erregte uns in einem unbeschreiblichen Maße. Wir machten es uns in einem der leeren Nebenräume gemütlich und bestellten uns Coca-Cola. Der Raum füllte sich allmählich, und Marina befand irgendwann, nun sei der Augenblick gekommen, eine Zigarette anzuzünden. Sie hatte schon einmal versucht zu rauchen und es hatte ihr nicht gefallen, deshalb hielt sie die Zigarette einfach nur zwischen ihren Fingern und schnippte hin und wieder demonstrativ die Asche ab. Sie bot mir auch eine an, aber ich wollte nicht rauchen. Einer von den Freunden meines Bruders hätte mich erwischen können, und solche Probleme wollte ich mir vom Hals halten. Ich hatte das Gefühl, einen seiner Freunde vom Gymnasium gesehen zu haben, es waren einige da in seinem Alter, aber es waren auch alle möglichen anderen Leute da. Auf dem Boden saßen Knirpse mit Gummistiefeln, die offenbar direkt aus dem Stall in den Club gekommen waren, Mädchen mit leuchtend blauem Lidschatten und Fledermausärmeln, Bauernmädchen und Bauernjungs aller Art, aber kaum solche, die attraktiv und gut angezogen waren. Wir einigten uns darauf, dass es solche entweder gar nicht gab oder dass sie sich erst viel später am Abend zeigten. Auch unsere Leute waren da, man sah ihnen sofort an, woher sie kamen: hochstehender Kragen, Trainingshosen und weiße Turnschuhe. Eng anliegende Levi’s, dunkelblaue T-Shirts, in die Hose hineingesteckt, daran erkannte man die Mädchen. Für unseren Geschmack war das nichts Besonderes. Dann
Weitere Kostenlose Bücher