Hotel Nirgendwo - Roman
21
41295 Kumrovec
Und dann, nur ein paar Tage nachdem mein Bruder den Brief abgeschickt hatte, kam die Antwort. In dem Brief stand:
30. August 1995
Verteidigungsministerium
Abteilung Soziale Fürsorge
Zagreb
An Herrn J.B.
Sammelunterkunft HV, p.p. 21
41295 Kumrovec
Sehr geehrter Herr B.,
am 07. 07. 1995 hat uns Ihr Brief erreicht, in dem Sie sich direkt an den Präsidenten der Republik Kroatien, Dr. Franjo Tudjman, mit der Bitte wenden, dass er Ihnen dabei hilft, regelmäßig eine staatliche finanzielle Zuwendung zu erhalten und Ihre Wohnsituation zu lösen.
Die Paragraphen zur Änderung und Erweiterung des Gesetzes, das die Rechte kroatischer Vaterlandsverteidiger aus der Zeit des Kroatienkrieges betrifft, sind in der Volkszeitung am 1. Juni 1995 erschienen.
Das oben aufgeführte Gesetz will sowohl die internierten als auch die verschwundenen kroatischen Vaterlandsverteidiger gleich behandelt wissen, deshalb unterrichten wir Sie im folgenden über die Ihnen zustehenden Rechte. Sie haben Anspruch auf:
– eine Nachzahlung in der Höhe einer Familienrente,
– eine Nachzahlung in der Höhe einer Invalidenfamilienrente.
Der Antragsvorgang für die Inanspruchnahme dieses Rechts wird im Verteidigungsministerium, Abteilung Soziale Fürsorge, an Ihrem Wohnort vorgenommen. Für den Antrag müssen Sie folgende Dokumente einreichen:
– einen Beleg von der Kommission für internierte oder verschwundene Vaterlandsverteidiger der Republik Kroatien, der auf eine eindeutige Weise die Identität der Person belegt, die entweder interniert wurde oder verschollen ist
– einen Beleg, der uns Auskunft darüber gibt, dass diese Person den Streitkräften der Republik Kroatien angehört hat, ebenso muss ihr Status belegt sein (Rangstufe, Militärgrad) – wird in der entsprechenden Dienststelle des Verteidigungsministeriums ausgehändigt
– einen Beleg über die Grundrente (Basisgehalt im Dezember 1994) – für die bisherigen Fälle wird der identische Betrag dem Verteidigungsministerium vorgeschlagen, Personalabteilung, Zagreb, Stančićeva-Straße 6
– Geburtsurkunde (Heiratsurkunde)
– Gemeindeeintrag
– Wohnungsurkunde (Aufenthaltsort)
– einen Beleg über die Umstände, unter denen der Verschollene oder Internierte vor seinem Verschwinden war (beim Militär genaue Aufstellung und Position)
Da unsere Abteilung Soziale Fürsorge keine Fragen zu Wohnungsangelegenheiten bearbeitet, bitten wir Sie, sich direkt an die entsprechende Abteilung im Verteidigungsministerium zu wenden und auf diese Weise Ihr Problem zu lösen.
Hochachtungsvoll,
Abteilungsleiter
Verletztenfürsorge
Militärgouverneur A.K.M.
Danach passierte wieder nichts mehr.
*
Es tat mir weh, dass Marina nicht mehr mit mir sprechen wollte. Zuletzt ließ sie mir in der Pause von Jelena ausrichten, es würde ihr auf die Nerven gehen, dass niemand zu bemerken schien, wie erbärmlich ich eigentlich sei, die anderen würden nicht einmal dann darauf kommen, wenn ich noch wie letztes Jahr eine Barbietasche trug; sie aber werde von niemanden ernst genommen und außerdem hätte sie Igor zuerst bemerkt. All das tat mir sehr leid, aber gleichzeitig war ich schrecklich aufgeregt, denn Igor hatte mir wiederum über Marinas Schwester ausrichten lassen, dass er mich total süß findet und dass wir doch nach dem nächsten Wiedersehen in der Oase einen Kaffee trinken sollten. Nun war ich in einem Dilemma. Ich überlegte, wie ich Marina wieder beschwichtigen könnte, wusste aber gleichzeitig, dass Igor auch ihr gefiel, und verlieren wollte ich ihn auf gar keinen Fall. Solange sie nicht mit mir redete, konnte ich außerdem nicht zu ihrer Schwester gehen, die seinen Freundeskreis kannte und zwischen uns vermitteln konnte. Ich lief nun alleine von der Schule nach Hause, und im Grunde brauchte ich auch niemanden, denn ich wollte das Gefühl des Verliebtseins ganz für mich haben. Ich mochte es, schwermütig vor mich hin zu seufzen. Der Flur der Politikschule stand im gleißenden Licht, die Fenster, das Holz, alles kam mir strahlend warm vor. Die Luft war von Staub erfüllt, weil auch die Putzfrauen mit den Jahren immer nachlässiger geworden waren.
Aus dieser märchenhaften Staubwolke ragte plötzlich ein winziges und unendlich altes Gesicht heraus, und zwei schwache Ärmchen legten sich mir um den Hals. Es war Marinas Großmutter, die lautstark weinte. Ich war völlig überfordert, es kam mir so unwirklich
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