Hotel Nirgendwo - Roman
seiner direkten Nachbarn zu stehlen, obwohl er alles hatte, was er brauchte. Sein Vater hatte es geschafft, aus Vukovar rauszukommen, und arbeitete jetzt in Deutschland. Es verschwanden auch viele persönliche Dinge von Frauen, die seine Mutter immer zum Kaffeetrinken traf. Alle wussten, dass Mika der Schuldige war, und behaupteten, Ivan würde ihn zum Klauen überreden. Jahre später war Mikas Familie eine der ersten, die nach Vukovar in ihr frisch renoviertes Haus zurückkehrte, kurz darauf stand in der Zeitung, die vierzigjährige S. M. hätte eine Wechselstube in Vukovar überfallen. Es kam heraus, dass sie seit Mikas Kindheit immer zusammengearbeitet hatten. Das erzählte man sich noch lange auf den Fluren des Hotels, und die Frauen behaupteten, besagte Dame sei immer schon etwas eigenartig gewesen. Das hätte man doch gleich gesehen. Es sei natürlich bekannt, als was sie gearbeitet hätte, während ihr Mann in Deutschland war, nämlich als Nutte, und der Kleine sei natürlich ein Dieb gewesen. Zu der Zeit fand man irgendwie auch heraus, dass Mikas Schwester schon in der dritten Klasse Schamhaare hatte. Die ganze Familie war verrückt, hat aber während ihrer Zeit hier immer so getan, als sei sie etwas Besseres.
»Hey, wo geht’s hin?« Als ich gerade dabei war, Ivans Zimmer zu passieren, sprach mich jemand von hinten an. »Ich gehe zur Rezeption«, sagte ich und wollte weitergehen. – »Komm doch zu mir, meine Mama ist in Zagreb.« – »Nein danke, ich will auf Marina warten.« – »Jetzt komm doch kurz rein, ich will dir etwas zeigen.« Widerwillig betrat ich Ivans Zimmer, weil ich nicht auf dem Flur mit ihm reden wollte und doch neugierig war, was er mir zeigen wollte. »Wir waren neulich im Dorf, Miro und ich«, fing er zu erzählen an. Miro sah genauso aus wie er, nur ein bisschen älter, etwas gelblich im Gesicht und voller Sommersprossen, er ging seit kurzem auf die Mittelschule und saß die ganze Zeit in der Kneipe. Ich nahm an, dass sie wieder etwas aus Marschall Titos Ethno-Stadt geklaut hatten, und es musste sich um etwas Größeres handeln, denn die kleineren Sachen waren schon längst alle weg. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Selbst wir Mädchen rächten uns an den Serben und Kommunisten und schrieben alles Mögliche ins Gästebuch des Museums. Das Buch wurde einmal sogar im Fernsehen gezeigt, als besonders eindrückliches Beispiel für die Zerstörung des kroatischen Kulturerbes. Mein Eintrag lautete: Genosse Tito, ich danke Dir für das wunderschöne kleine Zimmerchen, das Du Mama, mir und meinem Bruder geschenkt hast. Mögest Du dafür in der Hölle schmoren! Solche Einträge wurden in der besagten Sendung vorgelesen, meiner wurde aber nicht erwähnt.
Die Jungs hatten erst mit Kleinkram begonnen, später klauten sie einfach alles, was nicht niet- und nagelfest war: Gipsexponate, ein Schweinchen mit einem Apfel im Maul von einem Hochzeitstisch, der im Haus des feiernden Brautpaares stand, eine verrostete Zange aus der einstigen Münzanstalt von Zagorje, Holzspielzeug und verschiedenen anderen Blödsinn. In Titos richtiges Haus kam man nicht mehr hinein, weil dort inzwischen Wächter postiert waren. Vielleicht hatte man Angst, dass irgendwann auch die große Tito-Statue vor dem Haus verschwindet. »Was habt ihr denn gemacht?«, fragte ich. – »Wir waren nachts dort«, sagte Ivan, mit einem siegessicheren Lächeln im Gesicht. »Wir haben der großen Statue den Schlafanzug von Tićas Oma übergezogen.« Wir mussten beide lachen, weil das wirklich eine gute Idee war. »Der eine Wächter hat mitbekommen, dass etwas vor sich geht«, fuhr er fort, »und kam, um nachzuschauen. Als er uns gesehen hat, ist er total ausgeflippt und hat uns angeschrien, und da bin ich einfach in sein Häuschen gelaufen.« Ivan kroch unter das Bett und zog etwas heraus, das in ein Küchentuch eingewickelt war. Als er das Tuch entfernte, dauerte es einen Moment, bis ich erkannte, dass ich auf eine Pistole schaute, und zwar auf eine echte. »Du bist verrückt«, sagte ich. – »Da staunst du, was, soll mir nur mal einer schräg kommen!«, sagte er. – »Mensch, pack das wieder ein«, sagte ich, »du hast sie ja nicht mehr alle.« Wir sahen uns schweigend an. »Ich muss gehen, Marina wartet auf mich.« – »Du gehst nirgendwohin!«, sagte er. Er fing an zu lachen und kam näher an mich heran. Mir rutschte das Herz in die Hose. »Eines Tages wirst du meine Frau sein«, flüsterte er. Er rempelte mich heftig
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