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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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vor, dass all das nur wegen Igor passierte. Erst nach ein paar Minuten, in denen es mir gelang, die Worte der alten Frau zu sortieren, begriff ich, dass es gar nicht um ihn ging. »Mein Beileid, mein Beileid«, stieß sie immer wieder unter Tränen hervor, küsste mich und hängte sich bei mir ein. Großvater war schon eine Weile im Krankenhaus, besser gesagt in der Irrenanstalt. Ich hoffte, dass er und nicht jemand anders gestorben war. »Dein Großpapa ist tot«, sagte sie endlich und bestätigte meine Vermutung. Ich war ein bisschen erleichtert, aber ihre Tränen und ihre sentimentale Bemerkung, mein Opa würde mich nie wieder zum Bierausschank schicken können, damit sei es für immer vorbei, weil er jetzt für immer tot war, trieb mir dann doch die Tränen in die Augen, obwohl ich zum Schluss gar keine Lust gehabt hatte, ihm ständig zu Diensten zu sein, manchmal bat ich sogar irgendeinen der kleineren Jungs, an meiner Stelle zu gehen. Jedes Mal, wenn Mama aus Zagreb zurückkam, zitterte sie vor Angst, was sie nun wieder erwarten würde. Wenn er betrunken war, stellte er nichts Besonderes an, in der Regel weinte er dann nur und wollte sich ständig das Leben nehmen. Und zwar mit Strom, wahrscheinlich weil er früher einmal Elektriker gewesen war und wusste, wie das ging. Dann flehten Oma und Mama ihn immer an, es nicht zu tun, sie zogen ihn von den Steckdosen weg und zwangen ihn, schlafen zu gehen. Mein Bruder ist deshalb mehrmals ausgerastet, und ich hatte die Befürchtung, dass er Opa irgendwann schlagen würde. Das ganze Theater war langsam, aber sicher zu einer Schande geworden. Dann fing Opa an, die Jahre und die Wochentage durcheinanderzubringen, und man schickte ihn nach Jankomir. Dort gab es eine Ärztin, die meiner Mama den Vorschlag machte, an Opas Stelle besser selbst in der Anstalt zu bleiben, weil es doch offensichtlich sei, dass sie ihn loszuwerden versuchte. Opa wollte sterben, aber man ließ ihn nicht, und dann landete er in der Irrenanstalt und starb dort, ohne es zu wollen. So einfach war das. Lungenembolie. Das sagte man uns.
    Ich nahm mehrere Treppen auf einmal und sprang in den ersten Stock, wo Oma und Opa lebten, der Geruch von Topfenstrudel und Krapfen führte mich zu ihrem Zimmer. Alle Elektrokocher und Minibacköfen waren an, es wurde gebacken und gekocht, das war immer so, wenn einer starb, denn jeder wollte etwas beisteuern. Im dunklen Flur vor ihrer Wohnung stand eine Reihe von Stühlen, Oma saß auf einem von ihnen und war von mehreren in Schwarz gekleideten Frauen umzingelt. »Mein liebes Kind!«, hörte ich plötzlich ihre Stimme aus der Dunkelheit, als sie mich entdeckte. Wir umarmten uns lange, dabei strichen die anderen uns über die Haare und streichelten uns mit ihren ausgestreckten Armen. Oma wurde von allen geliebt, aber sie hatte Opa nicht geliebt, denn Opa hatte andere Frauen und die Trinkerei geliebt. Als ich klein war, war er gut zu mir, jetzt, da er tot war, wusste ich nichts über ihn zu sagen. Oma weinte, weil sie nicht wusste, wie sie nun allein zurechtkommen sollte und weil er es nicht bis zur Rückkehr nach Hause ausgehalten hatte, sie aber, sie hatte ausgehalten und würde bald zu ihm gehen, in den Himmel, in ein Haus, das niemand zerstören konnte.
    Wenn Oma in der Kindheit auf mich aufpasste, nahm sie mich zu den Begräbnissen aus der nahen und fernen Nachbarschaft mit, weil sie diese nicht verpassen wollte. Es war sehr spannend für mich, die Erwachsenen weinen zu sehen und auch, wie freundlich sie alle zueinander waren. Wenn die Zeremonie zu Ende war, zeigte Oma immer zu dem nicht ausgebauten Teil des Friedhofs und sagte: »Guck, da ist unser Haus, da gehören dein Opa und ich hin.« Auf Zehenspitzen versuchte ich das Dach des Hauses zu sehen, von dem sie sprach, aber es war vergeblich, ich konnte nie etwas erkennen. Erst viel später begriff ich, dass sie von ihren beiden Gräbern gesprochen hatte. Jetzt konnte Opa wegen der Vertreibung nicht in seinem Zuhause ruhen, sondern lag unter der elend gelben Zagorje-Erde, wie einige spöttisch zu sagen pflegten, auf einem kleinen Berg, neben einer kleinen Kirche.
    Völlig übermüdet kehrte Mama mit dem Autobus von der Leichenbeschauung bei der Obduktion nach Hause zurück, sie war zu Fuß von dem einen bis zum anderen Ende der Stadt gelaufen, zum Schluss zusammen mit Željkas Mama, die sie unter den Arm genommen hatte. Gegen zehn erreichte sie ganz bleich unser Zimmer. Wir hörten die Abschiedsworte der beiden

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