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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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in den Arm genommen. Bei Mama standen die Chancen nicht so gut, denn sie war der Chef. Das war sie auch jetzt, aber der Chef war ein bisschen müde, und das wollte ich ausnutzen. »Er würde mich gehen lassen«, flüsterte ich. – »Ach, das denkst aber auch nur du«, stieß sie hervor, »er würde dich nicht mal vor die Tür lassen, mach doch, was du willst!« Mehr musste sie gar nicht sagen. Das reichte schon, ich rannte schnell raus und schnappte mir aus Omas Zimmer die ockerfarbene Weste. Als ich zurückkam, hatte ich das Gefühl, dass sie geweint hatte, fragte aber nicht nach.
    Das Badezimmer, in dem ich mich zurechtmachte, war so klein, dass kaum zwei Leute hineinpassten, und dennoch kam uns nie der Gedanke, uns darüber zu beschweren. Wir wussten, dass es diejenigen, die als Flüchtlinge in Baracken lebten, noch schlimmer getroffen hatte. Am besten waren die dran, die im Hotel Interconti untergebracht waren. Wir bewegten uns irgendwo dazwischen. Gegenüber vom Bad war der Flur, in dem ein Spiegel stand, sodass ich mit meinen Kleidern fast die Hälfte des Raumes belegte und den gehässigen Kommentaren von Mama und meinem Bruder ausgeliefert war. Blaue Doc Martens, ockerfarbene Weste, ein verkehrt herum angezogenes T-Shirt, wirr abstehendes Haar – ich sah ganz anders aus als letztes Mal, aber ich fand, dass ich einer großartigen Version meiner selbst gegenüberstand. »Hast du denn nichts Besseres anzuziehen?«, fragte Mama. »Du siehst aus wie ein Flüchtlingskind«, schleuderte mir mein Bruder entgegen. – »Richtig, denn das bin ich ja auch, du Blödmann«, sagte ich, und er fing mit lauter Stimme an zu rezitieren. »Ich bin ein kleiner Flüchtling, zerstört ist mein Haus, der böse Serbe berüchtigt, alles, ach alles ist aus.« – »Sehr witzig«, sagte ich, mehr fiel mir dazu nicht ein. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu streiten, das machten wir ohnehin ständig, jeden Tag. Und wenn wir uns auch noch so gerne aus dem Weg gegangen wären, in diesem Zimmer waren es nicht einmal zwei Schritte bis zum Bett, und dabei hatten wir auch noch die ganze Zeit Mutter zwischen uns. Das war alles andere als eine große Distanz. Mein Bruder hatte weder Ahnung von Musik noch von Mode, nur seine Freundin konnte ihn da manchmal auf den rechten Weg bringen, aber das waren eher Ausnahmen. An diesem Abend war er ziemlich gut gelaunt. Von Mama hatte ich erfahren, dass unser Onkel in Zagreb war und uns vielleicht am nächsten Tag besuchen wollte. Das machte mich mindestens genauso glücklich wie die Tatsache, dass ich später ausgehen würde. In Ruhe darüber nachdenken konnte ich aber erst am nächsten Tag.
    Ich verließ das Zimmer und war zwar angezogen, aber trotzdem nur halb fertig, denn das Schminken fand in Marinas Zimmer statt, wo wir nicht unter Beobachtung standen. Für den Fall, dass einer von ihren Leuten hereinplatzte, hatte sie das Licht etwas gedämmt. Weder hatten wir viele Schminksachen noch wussten wir, wie man sich richtig schminkt, also machten wir einfach alles Marinas Schwester nach. Sie hatte uns einen schwarzen Kajalstift und ein fast leeres dunkelrotes Rouge überlassen, und wir versuchten, das Beste daraus zu machen.
    Als wir dann gegen neun endlich die Treppen nach unten liefen und von den anderen bewundert werden wollten, war kaum jemand da. Nur einige Omas waren zu sehen, die sich noch nicht in ihre Zimmer zurückgezogen hatten. Dazu kamen einige verwahrloste Hotelkinder, die hier zur Welt gekommen waren und immer nur auf den Hotelfluren herumhingen, um die Häuser zogen und jeden Winkel der ehemaligen Politikschule inspizierten. Sie fielen kaum auf, denn sie passten sich perfekt an, wie kleine flinke Kakerlaken, die von Geburt an wissen, wie man in jedes Kabinettszimmer hineinkommt. In einem der Zimmer wurden sie getauft, im anderen war ihr Kinderhort und im dritten würden sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ihre erste Zigarette rauchen. Dem Weihnachtsmann schrieben sie immer, dass ihr größter Wunsch die Rückkehr nach Hause war. Die kleine Mihaljevka hatte keine Ahnung, was ihr geschah, als sie einmal von ihrem eigenen Vater halb totgeschlagen wurde, nur weil sie ihn im Zagorje-Dialekt angesprochen hatte. Sie war sechs Jahre alt, ihre Schwestern fünf und drei, aber von diesem Moment an wussten sie genau, was erlaubt war und was nicht. Ihr Vater wollte unbedingt noch einen Sohn haben, und so wuchs die Familie alle zwei Jahre und bekam entsprechend immer ein weiteres Zimmer dazu. Dragana,

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