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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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küsste er mich und sagte, dass er sich melden würde. Darauf warte ich immer noch.
     
    *
     
    Jedes Mal wenn ich das Badezimmer betrat und das Licht anmachte, fielen schwarze Schabenkolonien von der Decke, einige Tiere verteilten sich flink in alle Richtungen, andere landeten dabei im Abfluss und in der Badewanne. Wenige Sekunden später war nichts mehr von ihnen zu sehen, lediglich eine oder zwei bekam man noch zu fassen, in der Regel waren das die etwas dickeren Exemplare, die sich ein wenig schwerfälliger bewegten und deshalb nicht schnell genug weggekommen waren. Anfangs schrie ich nachts immer auf, gelähmt vor Schreck und Entsetzen, wir ekelten uns so sehr, dass wir es kaum über uns brachten, die Schaben mit zusammengerollten Zeitungen zu erschlagen, doch irgendwann, wie das eben so ist, gewöhnten wir uns allmählich an sie. Ein paar Jahre später beachteten wir sie kaum noch, und wenn die Kakerlaken uns doch mal im Badezimmer störten, zerquetschten wir sie einfach mit ein bisschen Toilettenpapier zwischen den Fingern. Einmal fing mein Bruder sogar eine nicht mehr ganz so kleine Kakerlake ein und gab ihr den Namen Stevo. Er legte das Ungeziefer in eine alte Zahnpastaschachtel, und Stevo lebte einige Wochen lang als Hausattraktion bei uns. Mama war angewidert, ich hingegen fand das alles sehr lustig.
    Die Kakerlaken waren vor uns da gewesen, und wie es aussah, würden sie noch lange nach uns, wenn nicht für immer bleiben. Ihre Existenz war von nichts abhängig, und je mehr Zeit verging, desto mehr schien das auch für uns zu gelten. Wir waren am Leben.
     
    Ich stehe schon das vierte Mal auf. Muss pinkeln. Wahrscheinlich weil ich nervös bin und schon morgen fortmuss, ich ziehe um, werde wieder mit völlig fremden Menschen zusammenleben. Wie lange ich wegbleiben werde, weiß ich selbst nicht. Mamas Atem ist kaum zu hören. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht ist sie verschwunden. Vielleicht denkt sie nur ein bisschen nach. Darüber, wie es sein wird, wenn ich weg bin und sie allein bleibt. Wenige Wochen nach mir wird auch mein Bruder fortgehen. Was wird wohl aus uns werden, wir sind doch noch Kinder, ihre Kinder, sie hat doch nur uns. Wir sind alles, was ihr geblieben ist und weswegen sie noch am Leben ist. Ich weiß, dass sie uns liebt, aber es kommt mir komisch vor, dass sie sich so überhaupt nicht rührt. Als ob sie eingefroren wäre und auf die nächste Katastrophe wartet. Die ganze letzte Woche waren wir in Zagreb für mich einkaufen, neue Kleider für das neue Schuljahr, es hat sogar Spaß gemacht. Wir gingen in alle Geschäfte, die so aussahen, als könnte ich darin etwas finden, und ich probierte alles an, was mir gefiel. Wir lachten. Meistens fanden wir nicht dieselben Sachen schön, ich hatte gar keine Lust auf weibliche Kleidung oder bunte Details, ich mochte am liebsten Kleider, die zu groß, zu weit und zu haselnussbraun waren. Die einzige Ausnahme war ein violettes Mäntelchen. Es war eng anliegend, mit einer hochgeschnittenen Taille und kleinen hübschen Taschen. Ich fühlte mich in dem Mantel wie eine Figur aus einem Dickens-Roman, und das gefiel mir sehr. Und Mama gefiel es auch. »Der steht dir«, sagte sie lächelnd. Sie schaute mir in die Augen, und ihr Blick sprach Bände. »So einen Mantel hatte ich auch einmal«, sagte sie, »einen ganz ähnlichen, in Dunkelblau. Diesen Schnitt hat man getragen, als ich noch jung war. Damals war ich sechzehn. Es gibt sogar ein Foto von deinem Vater und mir, da habe ich diesen Mantel an und er eine echte Pelzjacke. Früher waren die Mäntel viel wärmer.« Sie wurde richtig redselig, während sie hinter mir stand und uns beide in dem großen Spiegel betrachtete.
    Sie war so groß wie ich. Schon bald würde ich größer als sie sein. Wir sahen uns kein bisschen ähnlich. Sie hatte einen dunklen Teint und lockiges Haar. Ich hingegen war bleich, fast durchsichtig, mit glattem, aschgrauem Haar. »Man könnte meinen, ich hätte dich geklaut oder in einem Rübenacker gefunden«, pflegte sie manchmal zu sagen als ich noch klein war. Dabei lachte sie und kitzelte mich. Wenn sie zur Arbeit ging, wartete ich immer ein paar Minuten, bis der Autobus verschwunden war, und dann machte ich ihren Kleiderschrank auf und inspizierte ihre Kleider. Ich nahm nichts von den Bügeln herunter, sondern steckte nur meine Nase zwischen ihre Sachen, sog den Geruch der Abende ein, an denen sie die Kleider getragen hatte, auf Festen, bei Tanzveranstaltungen und im Kino. Ich

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