Hotel Nirgendwo - Roman
ja schon einen Wohltäter, es ist nicht an ihr, sich um mich zu kümmern. Ein anderes Mädchen fällt mir auf, es ist bereits die dritte Pause, die sie mit Walkmanhören verbringt. Sie nimmt die Kopfhörer immer erst dann ab, wenn die Lehrer das Klassenzimmer betreten. Sie trägt ausschließlich Schwarz, sitzt immer allein, und ich würde gerne meinen Platz gegen den neben ihr eintauschen. Wir nähern uns einander langsam an. Aber es ist von Anfang an klar, dass zwischen uns so etwas wie Liebe ist. Sie heißt Zrinka und schaut mir direkt in die Augen, sie stellt mir keine Fragen, sie lächelt nicht dämlich, hat aber einen guten Humor und immer zwei Kuna für Salzgebäck dabei.
Ich fühle mich besser, jeden Tag, wenn ich mich neben sie setze. Zrinka sagt nichts, ich weiß aber, dass sie auf mich wartet und dass es ihr wichtig ist. Ich höre ihr zu, mit ihrem dunklen Blick erzählt sie mir von ihren sieben Rückenoperationen, von ihrem Spitznamen Roboter, den sie bekam, weil sie in der Grundschule ein Eisenkorsett tragen musste, von ihren Eltern, die nichts verstehen, und von den Schmerzen, die sie ertragen muss. Es macht den Anschein, sie würde niemanden brauchen, weil sie alles alleine schaffen kann. Manchmal nehme ich ihre Hand und halte sie ganz lange, manchmal umarme ich sie, und dann sieht sie mich mit gespieltem Ernst an und sagt: »Ist ja gut, werd jetzt bloß nicht sentimental, ja?« Sie redet mich immer nur mit meinem Nachnamen an, weicht mir aber nicht von der Seite und zieht ihren Arm nie weg.
Eines Tages stoßen wir zufällig auf dem Weg zur Schule aufeinander, wir freuen uns wie Leute, die in der offenen Weite des Meeres aufeinandertreffen und sich erkennen. Glücklich gehen wir ein Stück zusammen und reden. Die Sonne scheint hell, es ist Ende September, wir haben uns beieinander eingehakt. Sie berichtet von einer neuen Operation, von ihrer Hoffnung, es würde die letzte sein, und davon, dass sie den Beginn des nächsten Schuljahres verpassen würde. Mit einem Mal bemerken wir, dass wir uns im Zentrum auf dem Platz Ban Jelačić befinden und haben beide keine Ahnung, wie wir hierher geraten sind. Ich hatte mich ihr ganz anvertraut, in der Annahme, sie würde den kürzeren Weg zur Schule kennen, und sie war einfach mit mir mitgegangen, ohne sich um den Weg zu kümmern. Wir eilen zum Unterricht, die Physikstunde ist schon in vollem Gange. Wir bemühen uns nicht einmal, unser Zuspätkommen zu erklären, die anderen starren uns an, sie denken ohnehin, wir hätten geschwänzt. Es macht keinen Sinn, irgendetwas zu sagen. Nach dem Unterricht werde ich von der Lehrerin in ihr Büro zitiert, sie zeigt mir den Stundenplan, den sie für mich zusammengestellt hat. Dienstags könnte ich Ungarisch lernen und freitags Japanisch. Sie denkt, ich hätte zu viel Zeit und keine richtige Herausforderung, sodass mir eine zusätzliche Aufgabe nicht schaden könnte. Zrinka kann sich vor Lachen kaum halten, als ich die hohe Stimme unserer Lehrerin nachmache und ihr von meinem Gespräch mit ihr erzähle. Es ist beschlossene Sache, wir nehmen Japanisch.
Bei unserem letzten Ausflug sind wir leider auf den Geschmack gekommen. Die Physikstunde fängt an, uns zu langweilen, und wir beschließen, diese letzte Stunde donnerstags immer zu schwänzen. Nur allzu gerne würde ich auch Geschichte sausenlassen, nachdem der Lehrer mich letzte Woche an die Tafel gerufen hat und sich dabei als einer der vielen Vollidioten an dieser Schule entpuppt hat. »Du bist also aus Vukovar?«, schaut er mich mit weit aufgerissenen, kleinen, blutunterlaufenen Augen an. Alle wissen, dass er trinkt. »Ja«, sage ich laut und deutlich und denke dabei an meine Grundschullehrerin Maca, die mich damals in der Mathestunde nach vorne gerufen hatte und mich mit den Worten aufzulockern versuchte: »Was bist du denn so steif! Ich bin doch kein Tschetnik mit einem Messer in der Tasche.« Sie alle denken wahrscheinlich, Tschetniks mit Messern zwischen den Zähnen seien unser größter Albtraum, sie glauben, das sei Krieg.
Alle hatten zu diesem Thema etwas zu sagen. Auch mein Lehrer in der neuen Schule. »Los«, sagt er, als ich vor ihm stehe, »wisch die Tafel, da ist der Schwamm oder wie auch immer das bei euch in Vukovar heißt.« Er lacht los, begeistert über seinen eigenen Scherz, und die ganze Klasse lacht mit ihm. »Und wo leben deine Eltern?«, will er dann von mir wissen. – »Mein Vater ist verschwunden«, sage ich. – »Verschwunden? Wohin ist er denn
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