Hotel Nirgendwo - Roman
klein, aber man hatte es geschafft, vier Betten hineinzuschieben, eines neben das andere, mit engen Durchgängen dazwischen. Gegenüber von jedem Bett befand sich ein Miniaturkleiderschrank und am Fenster ein Schreibtisch. Es gab auch eine Terrasse, die von Zigarettenstummeln übersät war, vor der ein mächtiger Baum in die Höhe ragte. Da ich als erste das Zimmer betrat, suchte ich mir das Bett am Fenster aus und legte meine Tasche darauf. Mama erschien in der Tür, ich konnte förmlich hören, wie ihr das Herz zerbrach, und ich sah, wie ihre Finger die Türklinke umklammerten, sagte aber nichts. Sie selbst versuchte, heiter zu klingen. »In fünf Tagen sehen wir uns wieder, das geht so schnell vorbei, du wirst es gar nicht merken. Und du lernst bestimmt viele neue Freunde kennen!« Ich sagte ihr nicht, dass ich gar keine neuen Freunde haben wollte und dass ich neue Freunde hasse und dass alle Freunde, die ich in meinem Leben habe, immer nur neue Freunde sind, weil es nie dazu kommt, dass sie zu alten Freunden werden. Stattdessen umarmte ich sie nur und sagte: »Ich weiß Mama, ich weiß.« – Es war schon spät am Nachmittag, als ich aus dem Fenster sah, wie das grüne Auto meines Bruders unten wendete und dann wegfuhr. Die einzigen zwei Menschen, die ich hatte, fuhren in diesem Auto weg. Währenddessen kamen vor meinem Wohnheim einige Jungs zusammen, sie waren im Heim gegenüber untergebracht und wollten sich die neuen Mädchen anschauen.
Das Mädchen aus Vukovar hieß Nataša und schloss gerade die vierte Klasse der Mittelschule ab, lebte aber ansonsten in irgendeiner Baracke bei Sisak. Von dort war sie vor kurzem aus Vela Luka hingezogen, zuvor war sie über Jahre hinweg in einem Hotel für Flüchtlinge untergebracht. Sie war sehr nett, aber allzu viel hatten wir nicht gemeinsam, eigentlich nur unsere Lebensgeschichte, das aber schweißte uns vom ersten Tag an zusammen. Wir waren so etwas wie ungleich alte Schwestern, die zueinanderhalten, nicht weil sie sich aufregend finden, sondern einfach weil sie die gleichen Eltern haben und es deshalb nur logisch ist, dass sie miteinander Zeit verbringen.
Es war schon zehn Uhr abends, ich lag im Bett, hatte meinen Pyjama an und dachte darüber nach, wie Igor mich hier finden würde, indem er am Tor nach mir fragte, stellte mir vor, ich würde ausgerufen werden, es aber vielleicht nicht hören. Mitten in meine Träumereien platzte plötzlich Ivana hinein. Sie riss die Tür auf, ohne anzuklopfen. Noch bevor ich sie überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, kannte ich schon ihre Geschichte. Es hieß, dass ihre Mutter sie irgendwo in den Untiefen des dalmatinischen Hinterlandes mit sechzehn Jahren zur Welt gebracht und dann in die Obhut ihrer Großeltern gegeben hatte. Später soll sie geheiratet und neue Kinder bekommen haben, hat aber Ivana nicht wieder zu sich geholt. Ivana selbst wusste, wer ihr Vater war, denn in einem solchen Ort wusste einfach jeder alles, und auch ihr Vater wusste genau, wer Ivana war, aber er grüßte sie nicht einmal. Ihre Oma und ihr Opa waren gemein, geizig und streng, und als sie die vierte Klasse beendet hatte, gaben sie Ivana zu den Nonnen in Zagreb, wo sie das ganze Jahr verbringen musste, nur in den Sommerferien durfte sie weg. Es gelang ihr irgendwie, die achte Klasse zu beenden und auf eine normale Mittelschule zu kommen, und so landete sie eines Tages wie ich im Wohnheim. Sie war auf einer Landwirtschaftsschule eingeschrieben, nicht besonders intelligent, unhöflich, sehr eigen und roch tatsächlich ein bisschen. Wie ein Tier stürzte sie nun ins Zimmer und schmiss sich aufs Bett. Als sie mich bemerkte, tat sie desinteressiert, starrte mich oder besser gesagt das Fenster hinter mir an und sagte: »Wer bist’n du?« Ich stand auf und ging in meinem Pyjama zu ihr, reichte ihr die Hand und stellte mich vor. »Willst du Neapolitanerschnitten?«, fragte ich sie. Ivana sah mich an, als sei ich vom Mars gefallen, und fing dann an schallend zu lachen. »Du sieht aus wie ein Baby, du hast ja eine richtige Babyhaut. So werde ich dich nennen!« Sie nahm die Neapolitanerschnitten und ging auf den Balkon. »Komm, Baby, rauch mal eine mit mir«, sagte sie von draußen. Ich ging in meinem Pyjama in die kühle städtische Nacht hinaus und zog den Rauch tief in meine Lungen ein, der Zug war so tief, dass es an dieser einen Stelle wehtat, an der es immer wehtut, und dann fing ich an zu husten. Ivana lachte und sagte: »Ach du Dummerchen, der Teufel stiehlt
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