Hotel Nirgendwo - Roman
weiß, dass ich heute Abend dorthin muss. »Ja, die ist gewaschen, warum?«, will Mama wissen. – »Ich wollte sie heute Abend anziehen«, sage ich etwas leiser. – »Wie bitte? Du willst heute Abend ausgehen? Kannst du denn nicht einen Abend zu Hause verbringen?« Sie wirkt zutiefst enttäuscht. Plötzlich hält sie inne und sagt: »Dann geh endlich, geh, wo immer du hinwillst. So oder so, jeder lebt sein eigenes Leben.«
Sie tut mir ein bisschen leid, fast überlege ich, im Zimmer zu bleiben, aber ich gehe trotzdem aus, irgendetwas treibt mich an. An der Rezeption versammeln wir uns alle, das ist inzwischen zu einem Ritual geworden. Wir haben uns seit fünf Tagen nicht gesehen, und jetzt gibt es viel zu erzählen. Nur dass die anderen Mädchen alle zusammen in einem Wohnheim untergebracht sind. Marina und ihre Schwester, die uns langsam ernst zu nehmen beginnt, Božana und Vesna, die einfach dort weiterplaudern, wo sie aufgehört haben, und ich stehe daneben und bin mir nicht sicher, ob ich alle Zusammenhänge richtig verstehe. Zuerst gehen wir etwas in einem Café trinken, das einigermaßen nett ist, danach geht es in die Oase . Dort kennt man uns schon. Dickwanst taucht an diesem Abend auch auf, aber wir nennen sie nicht mehr so und verhalten uns ihr gegenüber inzwischen irgendwie anders. Sie geht eigentlich nie aus, aber seitdem ihr Freund Tićo sie verlassen hat, wird sie gelegentlich von ihrer Schwester und deren langjährigen Verlobten mitgenommen, damit sie mal aus ihrem Zimmer herauskommt. Ihr Freund und sie waren auch verlobt, aber schon bei meinem zweiten Wochenende zu Besuch aus dem Wohnheim hieß es, sie hätten sich getrennt. Er lebt jetzt mit einer älteren Frau, die einen Sohn hat. Seine Mutter und Nataša sind beide entsetzt darüber.
Wir sind nun fast vollzählig, bestellen uns einen Bambus, eine Mischung aus Cola und Rotwein, und Marina und ihre Schwester verkünden, dass sie uns einladen. Bald erfahren wir den Anlass: Sie gehen weg, sie haben eine Wohnung in Osijek bekommen. Nach dem ersten Halbjahr, sagen sie, ziehen sie um. Wir umarmen uns und geben uns Küsse, aber da ist noch etwas. Es wird mindestens einen Monat dauern, bis sie weg sind, aber ich weiß jetzt schon, dass der Moment irgendwann kommen wird, und wir immer weniger werden. Die kleine Ivana aus Vinkovci ist schon fort, Jelena und ihr Bruder sind nach Zagreb gezogen, bald werden auch Željka und ihre Mutter umziehen. Ich versuche mir das Leben ohne sie alle vorzustellen, versuche mir auszumalen, wie es sein wird, wenn wir hier alleine zurückbleiben. Mir ist heiß und ich schwitze, sage: »Los geht’s! Es wird Zeit aufzubrechen.« Bis zur Oase sind es nur einige hundert Meter, aber wir gehen sehr langsam, wir singen, halten an, gehen ein paar Schritte vor, ein paar zurück, machen Unsinn. Mein Herz tut so weh, als hätte mir jemand einen Tritt in den Magen verpasst und mir die Luft weggedrückt.
Ich werde ihn bald wiedersehen. Drinnen ist es schon sehr voll, aber fürs Tanzen ist es noch zu früh, also bestellen wir noch ein Getränk und warten eine Weile. Die Räume sind verraucht, und es ist dunkel. Aber ich kann alles gut erkennen. Mir entgeht nichts. Ich bemerke jeden, der über ein Meter achtzig groß ist, denn ich bin zu einem Sensor für langes blondes Haar geworden, für das hübsche Gesicht, für die Lippen, ohne die mein Leben nichts wert ist. Doch es ist keiner da, der so aussieht. Schon das dritte Mal eile ich zur Toilette, die Rauchschwaden werden immer dicker, meine Aufgeregtheit aber nimmt ab, ich werde nur traurig. Ich gehe zur Bar zurück und sehe am Ausschank Ivan und Miro sitzen. Ich gehe davon aus, dass die beiden betrunken sind, aber man sieht es ihnen nicht mehr an, nicht einmal, wenn sie es wirklich sind, das ist wohl eine Frage des Trainings. »Na, was gibt es, wollen die schlauen Gymnasiasten nichts mehr von uns wissen?«, wirft Miro mir zu. – »Wir waren doch noch nie richtig befreundet«, entgegne ich ihm. Sie bestellen mir einen Cocktail, und wir stoßen an. »Du bist doch nicht etwa immer noch mit dem Typ aus Zagorje zusammen?«, fragt Ivan, und ohne meine Antwort abzuwarten, sagt er: »Das tut mir in der Seele weh, wenn sich unsere Mädchen in solche Idioten verlieben. Was hast du bei dem verloren? Schau ihn dir doch an, man weiß nicht einmal, ob er ein Junge oder ein Mädchen ist.« Plötzlich wird mir klar, dass Ivan, während er spricht, jemanden im Visier hat, nämlich Igor selbst, der an
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