Hotel Nirgendwo - Roman
mit sich und Schuhe mit hohen Absätzen, ich habe rote Clogs an den Füßen, mit denen ich einen Krach mache, als wären es Stöckelschuhe. Auf dem Markt kaufen wir alles, was wir brauchen, und die Marktfrauen stecken mir immer wieder Leckereien zu, zwei Peperoni hier, ein Ei da, zwei Äpfelchen dort und immer so weiter. Mama sitzt am Esszimmertisch und weint. Ich habe Angst, ich weiß nicht, was ihre Tränen zu bedeuten haben, es ist neu für mich, dass auch Erwachsene weinen und dazu noch vor uns Kindern. Sobald sie aber meiner gewahr wird, lächelt sie, als wäre nichts und als wäre sie nur ein wenig verwirrt gewesen. Doch das Bild brennt sich in mir ein, ich kann es nie wieder vergessen. Mamas erste Tränen. Opa hatte sich damals betrunken und wollte sich das Leben nehmen. Oma hatte Mama gerufen, denn sie wusste nicht, was sie tun sollte. Mama sitzt am Esszimmertisch und küsst meine Stirn. Unsere Gesichter sind ganz nah beieinander, sie schaut mich an und sagt: »Heute ist ein großer Tag.« Es ist mein erster Schultag. Ich bin gerade sechs Jahre alt geworden, ich bin die Jüngste in der Klasse, aber klug und groß, das sagt jedenfalls Mama.
Mama und Papa im Bett. Ich stehe im Flur, ein Spion, der sie beobachtet, wenige Tage bevor wir ans Meer fahren. Sie streiten sich, leise. Ich versuche etwas zu verstehen. »Warum bist du nur so stur? Sind wir dir wichtig oder nicht? Verdammt noch mal, meine Kinder sollen sich vor niemanden ducken müssen!« Ich gehe zurück in mein Zimmer, später komme ich noch einmal raus. Mamas nackte Schultern ragen aus dem weißen Bettlaken heraus, sie schläft in Papas Armen.
Es wird hell. Die vielen Morgen verschmelzen in mir zu einem einzigen Augenblick. Ich betrachte Onkel Grgos grüne Tasche, die neben meinem Bett steht. Mama hat schon zwei Tassen Kaffee getrunken. Željkas Mama klopft leise an unsere Tür. Ich stehe auf, und Mama sagt: »Du brauchst dich nicht zu beeilen. Es ist genug Zeit, dein Bruder wird dich hinfahren.«
Ich ziehe ins Wohnheim.
*
Meine Mutter und mein Bruder sind noch da und schleichen um den Eingang herum. Er ist gerade nach draußen gegangen, um nach dem Auto zu sehen, das er gegenüber vom Wohnheim geparkt hat. Es gibt kaum Verkehr, denn es ist Sonntag. Mama steht neben der Tür und hat meine Tasche im Blick. Ich will nicht, dass die beiden gehen, und kann es gleichzeitig kaum erwarten, dass sie endlich verschwinden und ich sie nicht mehr anschauen muss. Ich stehe in der Schlange, um mich anzumelden, vor mir sind an die zehn junge Frauen, ich halte meine Dokumente bereit und warte darauf, dass man mir mitteilt, wer meine Zimmergenossinnen sein werden. Plötzlich lugt jemand über meine Schulter, und ich höre, wie mich eine Stimme fragt: »Du hast auch ein Vertriebenenkärtchen?« Große Augen sehen mich an, ein lächelndes Gesicht, eine junge Frau, die nur wenig älter als ich zu sein scheint. Es kommt mir vor, als sei ich im Ausland und jemand aus meinem Land redet mich an, jemand, der die gleiche Sprache wie ich spricht. »Ja, habe ich«, sage ich. »Woher kommst du denn?« Das Büchlein, das sie in den Händen hält, kommt mir sehr bekannt vor. Wir verstehen uns auf Anhieb. »Aus Vukovar«, sagt sie mit dem mir vertrauten Akzent. – »Ich auch«, sage ich rasch und kann meine Aufregung kaum verbergen. Wir kennen uns nicht von früher, aber jetzt sind wir beide hier, haben beide ein Vertriebenenkärtchen, ein Vertriebenentaschengeld, ein warmes Zimmer in einer Vertriebenenunterkunft, ein Zimmer, das auf uns wartet, und das ist wichtig. Jetzt können wir schon ganz gelassen miteinander schwatzen, auch mit den anderen Mädchen. Als mir der Schlüssel ausgehändigt wird, erfahre ich, dass ich mein Zimmer mit einer Studentin teilen werde, die wie ich ganz neu ist und die niemand kennt, und mit einer Ivana, die als das problematischste Mädchen auf der ganzen Etage gilt und die von allen gemieden wird, weil sie sich nie wäscht. Mama begleitet mich nach oben in mein Zimmer, sie trägt meine Tasche, ich bin in der Nummer 11 untergebracht, gleich neben dem Fernsehzimmer, das tagsüber als Unterrichtszimmer dient und das letzte Zimmer in diesem Stockwerk ist.
Als ich noch in Kumrovec lebte, glaubte ich, es sei unmöglich, in ein so kleines Zimmer drei Betten hineinzutragen und war der festen Überzeugung, man hätte zuerst die Betten aufgestellt und erst danach die Wände hochgezogen. Hier waren sie noch sparsamer. Das Zimmer war natürlich
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