Hotel Nirgendwo - Roman
verschwunden?« Im stillen denke ich, wenn ich das wüsste, würde ich nicht das Wort verschwunden benutzen. »Das weiß ich nicht«, sage ich stattdessen laut. Dann wird über die Ankunft der Kroaten auf der Balkanhalbinsel gesprochen, und zu allem Überfluss werde ich auch noch rot. Am liebsten würde ich abhauen. Der Lehrer gibt mir eine Vier und wirkt dabei sehr zufrieden mit sich, weil er meint, er hätte mir etwas geschenkt, so wie das immer alle glauben. Aber gut, beschlossen ist beschlossen, wir schwänzen Physik, die Lehrerin ist eigentlich gar nicht so schlecht, nur ein bisschen zu streng, wir tragen es ihr nicht nach und nehmen uns fest vor, alles nachzuholen.
In einer Woche wird Zrinka im Krankenhaus sein. Sie darf dann nicht mehr ausgehen, also schwänzen wir den Unterricht, um auf unseren Abschied anzustoßen. Wir haben Zeit bis zum Abwinken, ich kann bis zehn Uhr abends draußen bleiben, und ich nehme mir vor, sobald Zrinka weg ist, das Wohnheim von Marina und Vesna ausfindig zu machen und sie dort immer nach der Schule zu besuchen. Das ist mein neuer Plan. Zrinkas Plan ist es, nach Weihnachten wieder zurückzukommen. Bis dahin will sie alles über sich ergehen lassen und ein bisschen das Morphium genießen. Wir lachen und stoßen darauf an.
*
Es ist eigenartig, am Wochenende ins Hotel zu fahren. Fast habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Jahr für Jahr gehen immer mehr Leute aus dem Hotel Zagorje ins Wohnheim. An den Freitagen kommt dann die ganze Horde wieder zurück, die Omas stehen mit Lockenwicklern an der Rezeption, sie haben sich schwarze Tücher über die Haare gebunden und sehen aus wie die Vögel auf den Stromleitungen, die unsere lautstarke Rückkehr verfolgen.
Mama ist oben auf dem Zimmer, bereit, meine zwei Taschen voller schmutziger Wäsche entgegenzunehmen. Sie wäscht alles mit der Hand. Am nächsten Morgen kommt auch mein Bruder. Die Kleinen flitzen durch die Flure und spielen Fangen, die Trinker sitzen am Ausschank, es ist noch früh, vor ihnen liegt ein anstrengender Abend, viel Zeit ist vergangen und es wird noch viel Zeit vergehen. Die Großmütterchen und Großväterchen sterben, aber auch einige Jüngere. Auf dem Dorffriedhof wird der Platz immer knapper. Es werden neue Kinder geboren, und niemand wird je etwas daran ändern können, dass sie das Licht der Welt ausgerechnet in Kumrovec erblickt haben. Langsam, aber sicher werden sie in der Mehrzahl sein und sogar die überragen, die unter der Erde liegen. Vielleicht wurden wir hier aber auch längst von allen vergessen? Wer weiß schon, wie lange das Leben hier so weitergehen wird. So oder so, es ist schön, zu Hause zu sein.
»Wo bleibst du denn?«, werde ich gleich an der Tür überfallen. Ich denke darüber nach, wie ich mich wehren könnte. »Ich hatte am Vormittag noch Schule«, sage ich, »und wollte mit den anderen gemeinsam nach Hause fahren.« – »Und ich warte hier auf dich«, sagt Mama, »den ganzen Tag. Fast jeden Tag gehe ich arbeiten, und dann komme ich zurück, in dieses Zimmer, allein. Ich gehe allein zu Bett, ich wache allein auf. Und ununterbrochen sind meine Gedanken bei euch, ununterbrochen frage ich mich, wie es euch geht und wann ihr vorbeikommen werdet.« Ich verstehe sie nur zu gut, denn so ging es mir anfangs auch. Dann habe ich einige Leute und einige Orte kennengelernt, die mir gefallen, und die, die ich nicht kenne, gefallen mir fast noch mehr, denn ich liebe es, in Zagreb allein zu sein. »Mama, ich muss doch jetzt jeden Freitagnachmittag um fünf Japanisch lernen, die Klassenlehrerin hat mir das aufgebrummt, damit ich nicht zu viel Freizeit habe, deswegen schaffe ich es nicht mehr, den Bus um drei zu nehmen.« – »Mit welchem Recht hat sie das getan? Als ob du nichts anderes zu tun hättest! Als ob du keine Familie hättest!« Mama war wütend. »Ich glaube«, murmle ich versöhnlich, »genau davon geht sie aus.« Es macht mir ein bisschen Angst, mich selbst so reden zu hören, aber irgendwie fühlt es sich auch gut an. »Hast du die Weste gewaschen, die ich dir das letzte Mal mitgebracht habe?« Das ist im Grunde das einzige, was mich wirklich interessiert, denn ich will am Abend ausgehen und Igor sehen – er hat sich seit zwei Wochen nicht mehr bei mir gemeldet. Er hat nur einmal im Wohnheim angerufen, noch zehn Tage davor, und er war letztes Wochenende nicht in der Disco. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, und auch nicht, ob wir noch zusammen sind, aber ich
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