Hotel Nirgendwo - Roman
zweite Mal, aber die Schamgefühle sind jetzt noch stärker als damals. Der Vater meiner Freundinnen steigt aus dem Auto, sieht mich eine Weile an, und ich lasse meinen Kopf so tief wie möglich nach unten hängen. Er schüttelt ein wenig den Kopf, kommt mir näher. Er schaut mir in die Augen und sagt: »Na, komm, nur langsam, wir gehen jetzt einen Kaffee trinken.« Das überrascht mich, ich hatte etwas anderes erwartet, hatte vor Angst gezittert. Als er diesen Satz sagte, war ich über alle Maßen erleichtert, und auf seinem Gesicht bemerkte ich den Anflug eines Lächelns. Ich stehe auf. Er hält mich an der Taille fest, und ich hänge förmlich an seinem Hals, überlasse mich seiner Führung und vergesse alles andere um mich herum. Er ist stark und trägt mich fast den ganzen Weg, mein Kopf ruht an seiner Schulter. Zu meiner Überraschung denke ich plötzlich an meinen eigenen Vater. Ich bin wieder ganz klein, alles was ich kann, ist zu brabbeln und mich an der Hand des Vaters festzuhalten. Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter, aber das ist mir jetzt egal, ich bin betrunken, und wenn man betrunken ist, darf man machen, was man will. »Es ist alles in Ordnung«, sage ich leise. Alle denken, dass ich weine, weil ich mich schäme, aber ich schäme mich überhaupt nicht mehr. Ich weine, weil Papa mich in seinen Armen hält.
»Papa, Papilein, was hast du mir denn mitgebracht?« Das Auto hatte noch nicht auf dem Parkplatz vor dem Haus angehalten, aber ich kann schon erkennen, dass es unser alter olivfarbener Yugo ist. Wir haben ihn vor nicht allzu langer Zeit gekauft. Es ist weit und breit das schönste Auto, das ich je gesehen habe, nur der Mercedes meines Onkels ist noch ein bisschen schöner. Papa steigt aus dem Auto, ich renne in seine Arme, und er hebt mich hoch und sagt: »Wer ist mein kleiner Hautbewohner?« – »Ich! Ich! Was hast du deinem Hautbewohner mitgebracht?« Ich stoße die Wörter schnell aus, hastig, voller Erwartung. Papa hat immer ein paar Groschen in den Taschen, er kriegt bei seinem Nachtjob im Hotelrestaurant ein gutes Trinkgeld. »Hier, nimm das, kauf dir ein Eis!«, sagt er und legt mir die Groschen in die Hand. Ich renne los, renne vor das Haus, zurück zu meinen Freundinnen, die Gummispringen spielen. »Wer ist jetzt an der Reihe, Bim, Bamm, Bumms«, schreien wir vor Glück, und Papas Hand spielt mit, sie ist da, mitten unter uns. Die Mädchen glucksen! Sobald er nach oben gegangen ist, sagt Darija, hingerissen von seinen Scherzen: »Du hast so einen tollen Papa.« Ich bin jetzt wichtig, denn nun wissen es auch die anderen.
Marinas Vater macht den Motor an, und wir fahren los. Unser Auto ist neu. Es steht bei Oma und Opa im Hof, wir haben es gerade gewaschen und dann mit einem Tuch aus Hirschhaut poliert. Ich poliere den unteren Teil des Wagens, weil ich noch zu klein bin und an die Fenster und an das Dach nicht herankomme. Als wir fertig sind, macht Papa alle Türen auf, damit Luft hereinkommt, und ich frage, ob ich mich ans Steuer setzen darf, um ein bisschen zu spielen. Die Handbremse ist gezogen, der Schlüssel steckt nicht mehr, Papa lässt mich, denn wenn ich Papa um etwas bitte, bekomme ich es immer. Die Erwachsenen sitzen im Hof, essen Wassermelone, mein Bruder reitet mit seinem Pony an ihnen vorbei, und ich fahre Auto. Ich drücke alle Knöpfe, an die ich herankomme, sage »Los, los« vor mich hin, und nach einem weiteren Knopfdruck geht eine kleine Schublade auf. Darin sind irgendwelche Bonbons, nein, es sind Tabletten, oder doch Bonbons? Sie sind klein und rosa, und das ist meine Lieblingsfarbe. Ich weiß, dass ich Tabletten auf keinen Fall schlucken darf, aber ich will nur kurz probieren, um zu schauen, was es ist, nur kurz drüberlecken, Tabletten sind immer bitter, es wird bestimmt niemandem auffallen. Sie schmecken süßlich, nicht gerade süß, aber bitter auch nicht, also nehme ich so viele, wie ich greifen kann, stopfe mir eins nach der anderen in den Mund, bis in der Silberfolie keines mehr übrig ist. Die Folie will ich behalten, ich könnte ein Hotel für Ameisen oder etwas in der Art daraus basteln, denke ich und merke, dass ich sehr müde werde. Auf einmal höre ich Schreie, alle schreien, Papa hält mich im Arm, so wie er es immer macht, wenn wir abends von einem Besuch fortgehen und nach Hause fahren. Er wiederholt immerzu: »Nicht schlafen, nicht schlafen, meine Kleine!« Ich denke, dass es wohl schon Abend ist und ich unterwegs eingeschlafen sein muss, aber
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