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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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p.p. 21
    41295 Kumrovec
     
    Ich frage mich langsam, ob mein Bruder das alles für sich selbst macht, für Mama, oder ob er wirklich denkt, dass sie seine Briefe noch lesen. Wenn er das ernsthaft denkt, dann sollte er ihnen wohl eher nicht vorwerfen, dass sie Lügner sind und dass sie Wohnungen unter der Hand vergeben. Wenn sie das lesen, werden wir sicher gar nichts bekommen. Und der Absatz über die hervorragenden schulischen Leistungen seiner Schwester ist richtig gelungen, zum Totlachen. Dank hervorragender schulischer Leistungen könnte es durchaus sein, dass die Schwester dieses Halbjahr nämlich mit einigen Fünfen durchrasseln wird, nur dass noch niemand etwas davon weiß. Nicht einmal Mama hat eine Ahnung, und wie sollen es dann die Bürokraten bei der Wohnungskommission erfahren. Die Schwester könnte auch eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Unterricht bekommen, auch das weiß noch keiner. Aber was soll ich mich jetzt damit beschäftigen, ich werde darüber nachdenken, wenn die Zeit reif ist. Das jedenfalls sagen immer die Vertriebenen – warum sollte ich da aus der Reihe tanzen?
    Seitdem Zrinka nicht mehr da ist, kann ich keine Geduld für den Unterricht aufbringen, schon gar nicht für die Fächer, in denen man wie ein minderbemitteltes Wesen behandelt wird. Gut, ich muss zugeben, einige Leute sind ganz okay. Zum Beispiel mein Kroatischlehrer. Für meinen ersten Aufsatz habe ich eine Eins bekommen, ich schreibe am besten in der ganzen Klasse, das war allen gleich klar, und ich habe es auch keine Sekunde lang angezweifelt. Genügen wird es aber nie, denn dadurch werde ich auch nicht ein Teil von ihnen werden; außer natürlich, ich nutze es aus. Einige Tage nach der Rückgabe der Aufsätze kommt ein Mädchen aus meiner Klasse auf mich zu und bittet mich: »Du, ich würde dich gern mal um Hilfe fragen. Meine Tante ist vor ein paar Jahren gestorben, jetzt nähert sich ihr Todestag. Meine Mama hat gesagt, dass es nett wäre, wenn ich etwas schreiben würde, das könnten wir dann in der Zeitung veröffentlichen. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen könnte, und so dachte ich, ich frage dich mal, ob du mir etwas für die Tante schreiben könntest.« – »Okay«, sage ich. Immer sage ich okay, so bin ich offenbar erzogen worden, und im stillen denke ich: Wer ist hier bloß die Verrückte, was habe ich mit dir zu schaffen? Dass du dich nicht schämst, ich kenne deine Tante doch überhaupt nicht. Nun ja.
    Allerliebste Tante,
     
    die Zeit rast wie ein reißender Fluss, sie vergeht schnell und schwemmt alle Erinnerungen fort, doch mein Herz wird für immer ein großes Meer bleiben, in dem alle meine Erinnerungen an Dich für immer aufbewahrt sind.
    Es liebt Dich
     
    Deine Nichte M.
     
    Am folgenden Montag stecken alle ihre Freundinnen die Nasen zusammen, blättern in der großformatigen Zeitung, bis sie die Seiten mit den Todesfällen und Gedenken finden, und tätscheln ihr dann mitleidig die Schulter. Ich hoffe, sie fällt nicht in Ohnmacht. Die Verrückte. In der Physikstunde war ich schon zwei Donnerstage hintereinander nicht mehr, und es sieht fast so aus, als würde ich es wieder nicht schaffen, denn im Jungenwohnheim findet eine Party statt. Immer öfter zieht es mich zu den Leuten von gegenüber, dort ist zumindest jeder irgendwie anders, aber noch ein unentschuldigtes Fehlen könnte mir das Leben wirklich schwer machen. Ich muss mir überlegen, wie ich dem Unterricht fernbleibe, ohne aufzulaufen.
    Es ist beängstigend, wie schnell ich mich an alles gewöhnt habe, es ist beängstigend, wie leicht es mir fällt, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, und es ist beängstigend, wie tief ich gesunken bin.
    Was habe ich schon zu verlieren, die anderen kennen auch keine Skrupel. Ich stehe vor dem Konferenzzimmer, es ist die große Pause, alle sind draußen auf dem Schulhof, nur die Lehrer sind in Bewegung, gehen rein, kommen raus. »Bitte, könnten Sie meine Klassenlehrerin rufen?«, frage ich die Biolehrerin, die mich mag. Einen Augenblick später steht die Klassenlehrerin vor mir. »Was gibt’s?«, will sie wissen, »hast du ein Problem?« Sie lächelt argwöhnisch, als würde sie regelrecht darauf warten, dass ich wieder irgendwelche Probleme mache. »Könnten Sie mich wohl heute in der Physikstunde entschuldigen?«, frage ich mit gesenktem Blick. – »Was ist denn mit dir los, du spielst nur eine Schülerin, kommst und gehst aber, wenn es dir passt. Wohin willst du denn überhaupt?«,

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