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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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schießt es aus ihr heraus. »Ich würde gerne zur Gedenkmesse gehen, für meinen Vater. Sie fängt um sechs an.« Endlich ist sie still. Was soll sie auch machen. »Gut, geh. Und sag deiner Mutter, sie soll zur Elternsprechstunde kommen.« Ich nicke. Das glaubst aber auch nur du, dass ich es Mama erzählen werde, klar werde ich es ihr erzählen, genauso wie ich ihr von dem Elternabend erzählt habe. Als die Lehrerin später gefragt hat, warum meine Mutter nicht gekommen war, hatte ich ihr geantwortet, sie habe um die Uhrzeit keine Möglichkeit gehabt, von Kumrovec hierherzukommen. Aber ich krieg das schon alles hin, es bleibt mir ja noch ein Monat bis zum Ende des Halbjahrs. Es gelingt mir immer irgendwie, meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Wenn ich nur nicht ständig diese Leute vor Augen hätte, entweder bemitleiden sie mich, oder sie ignorieren mich. Am Montag fange ich an. Das verspreche ich mir selbst hoch und heilig. Keine Ausreden mehr. Ich verlasse das Schulgebäude, draußen ist es kalt, eisig, aber lebendig. Zagreb ist immer lebendig. Ich steckte mir die Kopfhörer ins Ohr und machte Musik an. Ach was soll ich nur machen, wenn meine Freunde weg sind, das ist das richtige Lied für mich, ich spiele es für mich und meine Freunde. Bis Borongaj will ich zu Fuß gehen, so spare ich ein bisschen Geld und kann dabei die Leute beobachten, die alle irgendwohin laufen. Ich will mir eine Zigarette anzünden, das Mädchen mit den Streichhölzern sein, ich will mich im Getümmel verlieren.
     
    *
     
    Im Jungenwohnheim waren die Partys immer besser. Wir versuchten zwar auch hin und wieder etwas auf die Beine zu stellen, aber wir konnten ihnen nicht das Wasser reichen, vor allem, weil sie es jedes Mal irgendwie schafften, massenweise Alkohol und Zigaretten zu organisieren. Die Musik war bei ihnen immer lauter als bei uns, die Dunkelheit dichter, und die Aufseher ließen sich niemals vor Mitternacht blicken.
    »Los, du Baby«, ruft mir Ivana vom Flur aus zu, »ich habe keine Lust mehr zu warten.« Ich lege die letzte Schicht Make-up auf mein Gesicht, das keineswegs geschminkt aussehen darf, und flechte mir lange Zöpfe. Dann komme ich aus dem Badezimmer heraus, als sei ich einer schlechten Kopie des Films Woodstock entsprungen. Omas Kleid ist zu meinem Lieblingsstück geworden. Darunter trage ich Hosen, die roten Doc Martens bis zum Knie und eine Kette mit Marihuana- und Peacezeichen. Sieht ganz so aus, als hätten wir einen vielversprechenden Abend vor uns. Ivana hat einen Flachmann in ihrer Tasche, ich trinke einen Schluck daraus und bemerke, dass es kein Etikett gibt, das auf den Inhalt schließen ließe, und ich nicht den blassesten Schimmer habe, was ich da in mich hineinkippe. So gut kenne ich mich mit Alkohol aus. Ich erinnere mich lächelnd an Mamas Satz: »Pass auf, dass dir niemand etwas in dein Getränk tut.« Aufpassen würde ich ja gerne, wenn ich nur wüsste, was ich überhaupt trinke. Ivana und ich sind gut drauf, die Party geht gleich los, wir müssen nur über die Straße gehen, und alle unsere Sorgen werden verschwinden. Die Musik ist hervorragend. Ich sehe ihn. Er steht in der Mitte des Zimmers und spielt Luftgitarre. Er ist älter. Mit Sicherheit ist er älter, denke ich, vielleicht ist er sogar schon Maturant, er ist wirklich wahnsinnig anziehend, solche Typen kenne ich sonst gar nicht. Ivana erfasst sofort die Lage. Sie kennt mich gut und sieht ja, dass der Typ lange gewellte Haare hat, dieses Mal sind sie schwarz, dass er eine Lederjacke und enge Hosen trägt. Sie mustert ihn und sagt dann: »Baby, er hat dich auch schon im Visier. Los, geh zu ihm hin«. Ich nehme noch einen Schluck aus dem Flachmann, die Sache scheint gut anzulaufen, ich stelle mich in seiner Nähe hin und fange an zu tanzen. Schon bald werden langsame Lieder gespielt, kurz darauf umarmen wir uns, drücken uns aneinander, seine Haare riechen gut, aber er sagt nichts, also schweige ich auch. Nach ein paar Minuten flüstert er mir ins Ohr: »Willst du mit in mein Zimmer kommen?« Irgendetwas in meinem Kopf sagt nein. »Okay, na klar«, sage ich. In seinem Zimmer stinkt es. Sechs Jungs schlafen hier, und es ist nicht so sehr die Unordnung, sondern der barbarische Gestank, der mir auffällt. Kommt wohl von den schmutzigen Strümpfen. Ich gehe mal davon aus, dass sein Bett das ist, auf dem die Gitarre lehnt. Ja, er ist Maturant, er geht auf die Musikschule, er ist neunzehn und hat ein Schuljahr verloren als in Bihać der Krieg

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