Hotel Nirgendwo - Roman
werde von lautem Stimmengewirr geweckt, schweißgebadet schrecke ich hoch, ich weiß nicht, wie viel Uhr es ist, ob ich spät dran für den Unterricht bin. Durch die Lautsprecher wird mein Name gerufen, auf mich wartet ein Telefonanruf an der Pforte, ich schaue auf meinen Wecker, alles in Ordnung, es ist erst elf. Völlig betäubt gehe ich die Treppen hinunter, das Mädchen, das für das Telefon zuständig ist, reicht mir lächelnd den Hörer. »Deine Mutter«, sagt sie, »es ist deine Mutter«. – »Ja, bitte?«, sage ich. – »Wie lange brauchst du denn, um aus deinem Zimmer zu kommen? Du bist schon fünfmal ausgerufen worden, hast du etwa noch geschlafen?« Ohne Begrüßung kommt sie gleich zur Sache. »Nein, natürlich schlafe ich nicht, ich habe Mathehausaufgaben gemacht, aber ich hatte Kopfhörer getragen, damit die anderen mich nicht stören.« Mein Gehirn scheint noch intakt zu sein. »Wie kannst du denn nur mit Musik lernen?« Mama wartet meine Antwort nicht ab. »Hör mal, deine Klassenlehrerin hat mich angerufen. Sie hat mich gefragt, warum ich nicht beim Elternabend war und wann ich in die Elternsprechstunde kommen würde. Wann war denn der Elternabend?« Eine konkrete Frage. »Das war vor zwei Wochen.« Eine konkrete Antwort. »Warum hast du nichts davon gesagt, ist irgendetwas passiert?« Eine weitere konkrete Frage. »Natürlich nicht, ich habe nur vergessen, es dir zu sagen. Und als ich dann daran gedacht habe, war es längst zu spät, da wollte ich dich nicht mehr damit belästigen.« Ich denke, dass ich gerade lüge und dass ich schlecht lüge und dass ich das schon mal besser konnte. »Ich gehe morgen zur Elternsprechstunde, heute kommt nach der Schule dein Bruder und holt dich ab.« Ich schweige. »Hast du mich verstanden?« – »Hab ich.« – »Okay, mach’s gut.« Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden. Es könnte schlimm werden.
Ich gehe zwanzig Minuten früher als sonst zur Straßenbahn, vor der ersten Stunde will ich mir das Unterrichtsmaterial einprägen, ich beschließe, mich zu melden und an die Tafel zu gehen, mich engagiert zu zeigen, einfach alles zu tun, was nötig ist, damit meine Klassenlehrerin auf mich aufmerksam wird. Ich hoffe die befürchtete Katastrophe irgendwie abwenden zu können. Aber zuerst muss ich das Treffen mit meinem Bruder überleben. Wir werden uns sicher streiten. Ich kann nicht sagen, was diesmal der Grund sein wird, aber Streit wird es in jedem Fall geben, den gibt es immer. Meistens geht es mit dem Satz los: Du bist nicht mein Vater. Sollte er mir irgendwie blöd kommen, dann drehe ich mich auf der Stelle um und gehe weg. Nach sechs qualvollen Stunden verlasse ich das Schulgebäude. Es sieht so aus, als würde hier niemand auf mich warten. Vielleicht ist er spät dran. Vielleicht kommt er gar nicht. Aber dann sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Mann, der an diesem kalten Wintertag nur eine leichte Jeansjacke trägt, das muss mein Bruder sein. Er schämt sich, seine violette Daunenjacke anzuziehen. Auch er hat mich bemerkt, wir gehen aufeinander zu, sehen uns dabei aber nicht an. Wir verbringen so wenig Zeit miteinander. »Schwesternherz, mein Täubchen, da bist du ja.« Sein Ton ist fröhlich, und er gibt mir wie immer dämliche Spitznamen. »Wo denn sonst. Und, geht’s dir gut?« Was soll ich ihn auch fragen. »Mir geht’s gut«, sagt er, und wir legen einen Schritt zu, damit wir die Straßenbahn erwischen. »Los, beeil dich«, sagt er, packt mich und schiebt mich vor sich her. »Was ist denn los, mach doch mal etwas langsamer.« Wir lachen, blödeln herum, springen in die Straßenbahn, und dann höre ich den mir schon zur Genüge bekannten pfeifenden Laut. Ich kann es nicht fassen, dass er in der gerammelt vollen Straßenbahn gefurzt hat. Da verdreht er plötzlich die Augen und sagt laut: »Mein Fräulein, dass Sie sich nicht schämen, ich bitte Sie, es stinkt ja fürchterlich!« Ich verpasse ihm einen Hieb mit dem Ellbogen und krümme mich vor Lachen. Als die Euphorie nachlässt, frage ich ihn, wohin wir eigentlich fahren. »Ich gebe dir eine Pizza aus«, sagt er, »Pudding und Schokoladeneis gibt’s auch, du kannst sogar einen Apfel und einen Apfelsaft bekommen!« Er holt einen ganzen Batzen bunter Marken aus seiner Tasche.
Die Studentenmensa ist für mich eine Märchenwelt. Mein Bruder ist der Osterhase, er serviert mir mehr als zehn verschiedene Dinge auf dem Tablett, fragt, ob ich noch etwas will, und bezahlt
Weitere Kostenlose Bücher