Hotel Nirgendwo - Roman
sie hierhergekommen? Welchen Weg haben sie genommen? Langsam wird es dunkel, der Tag ist kurz, schade, dass es der letzte ist. Aus dem Keller sind halbtote Menschen herausgekommen und kranke, bleiche Kinder, sie sind unterwegs in die normale Welt, die nur ein paar Kilometer von ihnen entfernt ist.
Jetzt ist es an der Zeit, jene, die geblieben sind, in Gruppen zu verteilen. Von fern hört man ein brummendes Geräusch näher kommen. Das sind die Autobusse, die anrücken. Es geht in die Lager. Er und Onkel Schnurre stehen nebeneinander, sie unterhalten sich mit den Augen, niemand kann sie hören. »Ihr elendes Vieh! Los, rein mit euch!« Auf einmal ist da ein Korridor, er besteht aus Baseballschlägern, Harken, Ketten, Gewehrkolben und allen möglichen Gerätschaften, deren ursprüngliche Funktion eine andere ist. »Bitte sehr, meine Herrschaften, wer will, darf zuerst.« Sie versuchen mit ihren Händen die Köpfe zu schützen, Schläge stürzen auf sie herab aus allen Himmelsrichtungen. Unterschiedliche Arten von Schlägen. Stumpfe Schläge, solche, die sofort das Blut spritzen lassen, und solche, die aus den Lungen den Atem pressen, alle möglichen Schläge. Der Bürgermeister ist auch zugegen, damit alles nach Protokoll läuft. Einige fallen bereits entkräftet zu Boden, es sind nicht viele, sie können nicht mehr, und die anderen schauen mit Entsetzen zu. Endlich sind alle drinnen. Fünf Busse fahren los. In der Nacht kann man nur schwer erkennen, wohin die Reise geht, in der Nacht, die so voller Tod ist. Es ist ohnehin egal, drum herum ist nur ebenes Land, so flach, dass man verrückt werden könnte, gleichgültig. Sie fahren nicht lange. Dies ist nicht Serbien, das hier erkennen sie wieder. Es ist das Landwirtschaftsgut Vupik in Ovčar, ganz in der Nähe von Vukovar, wo Ackerbau und Schweinezucht betrieben werden. Große Hallentüren sind zu sehen, mit Metallschiebetüren, an denen landwirtschaftliche Geräte hängen, und in den großen Türen sind kleine eingelassen, für kleine Menschen, gewöhnliche Menschen, Menschen wie du und ich. Sie holen sie aus dem Autobus, und die ganze Prozedur geht von vorne los. »Los, und noch mal von vorne!« Sie werden auf verschiedene Hallen verteilt, ein Autobus nach dem anderen, doch einige bleiben übrig. Sie holen an die zehn Männer heraus, um sie wird man sich persönlich kümmern. Handarbeit, gewissermaßen. Handarbeit steht immer höher im Wert als Serienarbeit, die ist ja einfach. Ein Schuss in die Stirn, das kann ja jeder. Aber bei der Handarbeit, da muss man sich Mühe geben, sein Wesen und seine Kreativität einfließen lassen. Das ist es, worüber noch später geredet werden wird. Er hat Angst. Er weint. Ihm laufen die Tränen das Gesicht herunter, aber er gibt keinen Laut von sich. Doch welchen Sinn hat es, es zu verstecken, hören würde ihn ohnehin niemand. Alle schreien lauthals, rufen um Hilfe, heulen, und die Schüsse übertönen alles. Da sind auch irgendwelche Kameras. Wahrscheinlich Diebesgut, aber das mindert nicht die technologische Errungenschaft. »Verdammte Scheiße! Mile, du Arsch, guck dir das an, die Batterie ist leer! Warte, ich schieb eine neue rein.« Mile hält in seiner Arbeit inne, lässt die Pistole an seinem Bein herunterbaumeln und wartet darauf, dass in ihm wieder Energie aufwallt und er seine heldenhafte Tat auf einer Fotografie verewigen kann. »Los, schießen!« Zehn Männer stehen vor der Halle. Zehn Menschen denken gleichzeitig, es sollte bloß ganz schnell gehen. Einer von ihnen denkt an mich. Er denkt an meine Mama, an meinen Bruder. Wieder an mich. Das sind keine klaren Gedanken, es ist schwer, dem Gedankenstrom zu folgen, überall sind Schreie. Sie schlagen, sie hacken Finger ab, sie schießen, sie stechen zu, uns geht es gut, wir sind in Zagreb, wir sind weit weg. Sie schneiden ihnen die Kehlen durch. Handarbeit. Fertig. Zum Glück. Am schlimmsten ist es für den, der als letzter übrig bleibt. Sie haben neun Stunden vor sich, in denen sie morden werden. Das ist keine leichte Arbeit, sie werden zwischendurch auch etwas essen und trinken müssen, das sie hoffentlich stärken wird, damit sie so effektiv wie möglich sind.
Ich stelle mir gerne vor, dass er unter den ersten war. Aber mir ist durchaus bewusst, dass es sich hier um einen Hollywoodfilm handelt, der in meinem Kopf spielt, um ein Märchen, eine Telenovela. Sosehr ich mich auch anstrenge, ich werde es mir nie, nie vorstellen können. Und ich werde mir Mühe geben. Ich
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