Hotel Nirgendwo - Roman
werde mir mein Leben lang Mühe geben. So wahr ich hier stehe. Amen.
Kaum dass ich die Tür hinter mir zugezogen habe, empfängt mich ihr lautes Schluchzen. Ich weiß, es ärgert sie, dass ich nichts sage, doch ich entschuldige mich nicht, ich will nicht darüber diskutieren. Auf dem Bett meines Bruders liegt zusammengefaltete Bettwäsche. Sie hat bestimmt den ganzen Abend allein verbracht. Ich möchte mich nur unter der Decke verkriechen, einschlafen, und als ich es versuche, höre ich ihre Stimme: »Es muss ja schön für dich gewesen sein, wenn du so lange geblieben bist. Nur zu, hab deinen Spaß.«
*
Ich hasse Sonntage. Ich weiß, dass viele Leute Sonntage hassen. Aber ich hasse sie von ganzem Herzen. Den halben Tag tue ich eigentlich nichts anderes, als auf die Rückkehr ins Schülerwohnheim zu warten, dabei muss ich mir anhören, ich sei viel zu spät nach Hause gekommen, ob ich denn nichts vorzubereiten hätte und was das denn überhaupt für eine Schule sei, wo es keine Hausaufgaben gebe. Jetzt ist Mama irgendwohin gegangen, endlich, wahrscheinlich zu Oma, und ich sehe, dass auch mein Bruder sich fertigmacht, sodass ich mich bald aus dem Bett quälen kann. Mein Kopf tut weh. Ich habe auf nichts Lust. Und als ich mich daran erinnere, dass am nächsten Tag eine Mathematikarbeit ansteht, möchte ich am liebsten aus dem Fenster springen. Es hat angefangen zu regnen, ein weiterer Herbst ist gekommen, und in diesem armseligen Zimmer sind die Fenster irgendwie schief eingebaut worden, wenn es regnet, kann man sie nicht öffnen, sonst regnet es rein. Also kriegt man eben keine Luft, solange es regnet. Draußen ist niemand zu sehen, alles ist leer und öde, viele Menschen sind schon fortgegangen, fast nur noch die Alten sind geblieben. Auf dem Arbeitstisch hat mein Bruder irgendwelche Briefe liegen lassen. Den einen abgeschriebenen hat er offenbar schon zum Briefkasten gebracht, und die erste Version ist auf dem Tisch liegen geblieben. Noch ein Versuch. Es gibt keine Chance, dass wir die Wohnung bekommen.
30. November 1996
Verteidigungsministerium Republik Kroatien
Haupt-Generalstab
z.Hd. Hauptmann Z.Č. der Kroatischen Armee
Sehr geehrter Hauptmann Z.Č. !
Es tut mir leid, dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehmen muss, aber ich erachte es als notwendig, mich an Sie zu wenden, weil ich ein paar Dinge einfach nicht verstehe und Sie deshalb bitten möchte, sich Zeit für mein Anliegen zu nehmen und diesen Brief zu lesen.
Ich bin der Sohn eines verschollenen Vaterlandsverteidigers – er ist 1991 im Krankenhaus von Vukovar verschwunden. Ich will Sie keineswegs mit den Details unseres Leidenswegs behelligen, mit all dem, was meine Schwester und meine Mutter seither erleben mussten, aber ich möchte Sie darum bitten, unsere Wohnungsfrage zu lösen.
Den Antrag für eine Zuteilung haben wir bereits 1991 gestellt, aber seitdem hat man uns nur mit Lügen und leeren Versprechen vertröstet. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass Wohnungen über Beziehungen vergeben werden. Ich habe in dieser Angelegenheit schon das Kabinett unseres werten Präsidenten konsultiert, allerdings schon vor einem Jahr. Sie haben mir auf mein damaliges Schreiben geantwortet und uns mit Ihren Worten große Hoffnungen gemacht, aber die Enttäuschung währt nun länger als der freudige Moment der Hoffnung, denn es hat sich danach niemand mehr um uns gekümmert, geschweige denn versucht, unsere Probleme zu verstehen. Nun frage ich mich, ob es bei der Wohnungskommission überhaupt eine Autoritätsperson gibt, denn offensichtlich werden Wohnungen nach Gutdünken verteilt und nicht nach irgendwelchen festen Kriterien.
Heute möchte ich Sie noch einmal bitten, helfen Sie uns, die Wohnungsfrage zu lösen. Meine Schwester geht jetzt auf ein Gymnasium, dank ihrer hervorragenden schulischen Leistungen konnte sie sich dort anmelden, aber sie lebt jetzt allein in einem Schülerwohnheim, weit weg von ihrer Mutter. Ich bin Student, aber ich habe keine Möglichkeit zum Lernen, denn wir leben in einem neun Quadratmeter großen Zimmer.
Ich habe versucht, mich knapp und präzise zu fassen. Ich flehe Sie bei Gott an, helfen Sie uns, damit wir anfangen können, ein normales Leben zu führen, ich denke, wir haben das verdient, angesichts der Tatsache, dass auch mein Opa als Mitglied der Kroatischen Armee in Vukovar umgekommen ist.
Ich bedanke mich im voraus für Ihre Mühe.
Hochachtungsvoll,
J. B.
Heim HV
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