Hotel Transylvania
Hand anhalten wird, ist, wie ich denke, wohl kein böser Mensch, aber gedankenlos und daher grausam. Er kümmert sich um keinen anderen außer um sich selbst, weil man ihn nie gelehrt hat, andere Gefühle als die eigenen in Betracht zu ziehen. Und es scheint, dass das Leben in Paris dieses nur noch schlimmer macht. Er besitzt Vermögen, eine gewisse Bildung, sieht recht gut aus und ist hochelegant, aber er würde an einem verhungernden Kind vorbeireiten, ohne sein jammervolles Weinen zu hören oder seine ausgemergelte Gestalt zu sehen. Kein Wunder, dass Ihr diese Menschen so meidet, wie es Eure Gewohnheit ist.
Doch bedenket dies: Ihr seid ebenso ein Beispiel für sie, und wenn Ihr Euch ewig in der Provence versteckt, was können sie dann von Euch lernen, außer, dass Ihr ein Einsiedler seid, der mit dem Kopf in den Wolken lebt? Ich übersende Euch eine Einladung zu der Fête im November, und ich bete, dass Ihr kommen werdet. Es würde mich entzücken, Euch an meiner Seite zu sehen, damit Ihr selbst seht, wie ich dieses gewaltige Meer der Gesellschaft befahre.
Während meines Aufenthaltes habe ich viele Dinge erfahren, die ich zuvor nicht verstanden habe. Das Nachdenken über die Lehren der Schwestern hat mich einem neuen Verständnis des Glaubens zugeführt, und dies in einer Tiefe, die ich bislang nicht gekannt hatte. Wir leben nicht nur in einer Welt von Leben und Tod, mein Vater. Es gibt eine Barmherzigkeit, welche die Kürze des Lebens übersteigt und uns unsere jämmerliche Sterblichkeit erträglich macht.
Wenn meine Mutter von den Anwesen ihres Bruders zurückgekehrt ist, hoffe ich doch, dass Ihr ihr meine Grüße entrichtet und mich ihr empfehlt. Was Euch angeht, so habt Ihr meine töchterliche Achtung und Ergebenheit und meinen willigen Gehorsam vor Euren Befehlen und Neigungen. In dieser fortwährenden Versicherung bin ich stets
Eure ergebene Tochter
Madelaine Roxanne Bertrande de Montalia
3
Der Lakai in der dunkelblauen Livree mit den roten Säumen verneigte sich, als er die Tür zum kleinen Salon öffnete und dabei annoncierte: »Le Comte d'Argenlac, Baron Saint Sebastien.«
Saint Sebastien sah von seiner Lektüre auf und nickte knapp, als Gervaise d'Argenlac mit unsicheren Schritten den Raum betrat. »Baron Saint Sebastien?«, sagte er zögernd. »Ihr wolltet mich sprechen?«
»Ja, d'Argenlac, das wollte ich.« Er erhob sich aus seinem tiefen Sessel und musterte seinen Gast mit verschleiertem Blick. »Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich ein Freund von Jueneport.«
Bei der Erwähnung von Jueneport krümmte Gervaise sich geradezu, und Saint Sebastien verspürte eine Aufwallung der Zufriedenheit. Offenbar hatte das Gespräch vor zwei Tagen d'Argenlac in schwere Ängste gestürzt.
»Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Comte«. sagte Saint Sebastien glattzüngig und legte sein Buch auf einem kleinen Rosenholztisch ab. Drei solche Tische standen im Salon, und seine hohe Decke war mit einer verstörend realistischen Gemäldeversion des Raubes der Sabinerinnen verziert. Im hinteren Teil des Raumes brannte ein niedriges Kaminfeuer, denn obgleich die Regenfälle aufgehört hatten, wies die Luft noch einen scharfen Biss auf, der das helle Sonnenlicht, das sich durch die hohen Fenster ergoss, deutlich abkühlte.
»Ich mache mir keine Sorgen, Baron«, log Gervaise. Immer noch hielt er seinen Gehstock und seinen Dreispitz in der Hand und schien nicht zu wissen, was er damit anfangen sollte. »Ich gebe zu«, sagte er und wich Saint Sebastiens verächtlichem Blick aus, »dass ich mir nicht vorstellen kann, weswegen Ihr mit mir sprechen wollt.«
»Nennt es eine Laune, Comte. Vielleicht mögt Ihr Euch setzen.« Er deutete auf einen Sessel und wartete, bis Gervaise Platz genommen hatte. Seinen Dreispitz umklammerte er über den Knien.
Saint Sebastien schlenderte zum Fenster und ließ Gervaise warten.
»Ich fand es sonderbar, Baron«, sagte Gervaise schließlich mit unnatürlich hoher Stimme, »dass einer Eurer Lakaien mir eine Nachricht von Jueneport bringen sollte.«
»Fandet Ihr?« Er drehte sich langsam um und freute sich, zu sehen, dass le Comte d'Argenlac wie ein Schuljunge hin und her rutschte. »Ihr solltet Euch auch darüber wundern.«
»Aber warum? Welches Interesse habt Ihr an mir?« Mittlerweile wünschte er sich, dass er so umsichtig gewesen wäre, seinen formellen scharlachroten Satinmantel mit den in Rosa und Gold
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