Hotel van Gogh
möchte mich verlieben in Sarah oder eine ihrer Schwestern. Ich spüre, wie ich den Personen meines Romans näherkomme.
Planlos laufe ich durch die umliegenden Straßen. Mein Blick fällt auf eine kleine marmorne Gedenktafel: »Für unsere verschleppten und ermordeten Kinder. Ermordet, weil sie jüdisch waren.« Ich weiß nicht, wie lange ich starr davor stehenbleibe. Ein dünner Goldrand ziert die unauffällige Tafel. Ich schaue den ausgelassen tobenden Schulkindern nach.
Abends treffen Françoise und ich uns mit ihren Freunden in der Coupole in Montparnasse.
»Wie kommt dein Roman voran?«
Sechs Monate Paris, denken die wahrscheinlich, und noch nichts vorzuweisen. Während der Unterhaltung schweifen meine Gedanken zu Sarah. Ich spüre, wie sich dieses andere Leben entwickelt, oder besser diese zwei Leben, mein wirkliches und das des Romans. Und im Getriebe des Restaurants, als gerade das Licht gedämpft wird und die Phalanx der Kellner einem Gast ein lächerliches Geburtstagsständchen darbietet, wird mir bewusst, dass ich dieses Buch über Sarah nicht schreiben kann. Noch nicht. Das deutsch-jüdische Thema ist zu groß, zu anspruchsvoll und letztlich zu verheerend, als dass sich dies mit meinem ersten schriftstellerischen Versuch bezwingen ließe.
Am nächsten Morgen wache ich niedergeschlagen auf. Erst die dramatischen Schritte, die mich nach Paris geführt haben, und plötzlich stecke ich mit neunundvierzig in einer Lebenskrise. Vielleicht handelte es sich von Anfang an auch nur darum. Ich stelle alles in Frage. Hier, in der Nähe von André Gide und Albert Camus, erwartete ich wohl, dass etwas von ihrer schriftstellerischen Magie auf mich abfärben würde. Einfach so. Aber es färbt nichts ab, so geht es nicht, das muss man schon selbst mitbringen.
Seit meinem Umzug nach Paris bin ich einem Phantom hinterhergerannt. Als hätte man mich nicht gewarnt!
Ich bin tagelang schlechter Laune. Auch mit Françoise in einem Restaurant oder im Theater oder wenn wir zusammen schlafen, kann ich mich nicht aus dieser Unzufriedenheit lösen. An einem sonnigen Vormittag sitze ich planlos im Jardin du Luxembourg. Ich schaue den weißbeschürzten Kindermädchen mit ihren unbekümmert spielenden Kindern zu. Plötzlich fällt mir eine Gestalt auf, weil sie nicht in das Bild passt. Ein abgemagertes, ungepflegtes Mädchen, kaum über zwanzig, schätze ich, mit ungekämmtem Haar und einem blassen, ausdruckslosen Gesicht. Wie ein Schatten trottet sie in sich versunken an den spielenden Kleinkindern vorbei. Missbilligende Blicke folgen ihr hinterher. Ich atme ihren herben Geruch, als sie an mir vorbeiläuft.
Später will mir das Mädchen nicht aus dem Kopf gehen. Etwas an ihr erregt mich. Abhängig von Drogen und Alkohol, gestrauchelt und ohne ein festes Dach, stielt oder hurt sie, um an den nächsten Schuss Heroin zu gelangen. Vielleicht selbst einmal als eines dieser behüteten Kinder im Jardin du Luxembourg aufgewachsen, aber nun hat sie jeden Kontakt mit ihrer bürgerlichen Herkunft verloren und haust wie ein Tier in den lichtscheuen Ecken von Paris. Ihre vornehmen Eltern werden stets von der Angst begleitet, unter den Gestalten des Dunkels unversehens auf ihre Drogentochter zu stoßen. Ich kenne einen solchen Fall bei Bekannten, die vergeblich alles versucht haben, um ihre Tochter vor dem Absacken zu retten. So ist das Leben, ich muss diese Geschichte nicht erfinden.
An den folgenden Tagen warte ich vergebens wieder auf sie im Jardin du Luxembourg. Schließlich gebe ich enttäuscht auf. Und wenn sie erschienen wäre? Hätte ich sie angesprochen, mir für ein paar Francs ihr Schicksal erzählen lassen? Unsinn, dafür bin ich überhaupt nicht der Typ.
Trotzdem komme ich von dem Mädchen nicht los. Nach und nach drängt sich mir ihr Leben auf, oder besser, wie ich mir es vorstelle. Die Geschichte von ihr und dem Geschäftsmann, der sie zu retten versucht. Aber diese Geschichte muss in einer anderen Stadt spielen. Paris gehört Sarah.
Ich kenne New York nur flüchtig, aber dort, stelle ich mir vor, gehört das Mädchen hin, in die vergammelten Ecken von Greenwich Village oder die Hölle der Bowery. Eine Woche später sitze ich im Flugzeug nach New York. Ich miete ein Einzimmer-Apartment in einem Hotel in der sechsundfünfzigsten Straße nahe beim Central Park. Von meinem Schreibtisch blicke ich auf verglaste Wolkenkratzerfassaden gegenüber.
Ich habe meine erste Schriftstellerkrise überwunden.
Morgens jogge ich durch den
Weitere Kostenlose Bücher