Hotel van Gogh
New York, um die Stadt zu unterschiedlichen Jahreszeiten zu erleben. Der Winter ist brutal kalt, aber plötzlich schneit es bei einem meiner Besuche und im Schneechaos bricht der Stadtverkehr zusammen. New York verwandelt sich in ein weißes Paradies der Stille. Natürlich hält dies nicht lange an, aber dieser kurze Moment, in dem die Stadt aufhört zu rasen, offenbart ihre überwältigend zarte Schönheit. Fast unvorstellbar, das schmächtige Mädchen in der klirrenden Kälte des New Yorker Winters, aber so sieht ihre Wirklichkeit aus.
Irgendwann frage ich mich, wie andere Schriftsteller an ihre Arbeit herangehen. Vielleicht lernt man das in den Schreibkursen, die ich nie besucht habe. Aber letztlich muss doch jeder seinen eigenen Weg finden. Ich vertraue meiner Detailbesessenheit und der Fähigkeit, fragend und unvoreingenommen zu beobachten. Den Ort des Geschehens kennenzulernen, geschichtliche Beziehungen bis in die letzten Einzelheiten zu erforschen und den Personen, über die ich schreibe, irgendwann einmal im Leben zu begegnen. So wie dem Mädchen damals im Jardin du Luxembourg, mit dem ich seither lebe.
Bei einem meiner Aufenthalte in New York besuche ich in Chelsea die Vernissage eines Künstlers, den auch Françoise in ihrer Galerie ausstellt. Danach gehe ich mit ihm und seinen Freunden zum Abendessen und später in einen Club in Soho. Laut hämmernde metallische Musik und ein pulsierendes Lichtspektakel. Die Frau neben mir gibt mir eine kleine weiße Pille. Ich blicke sie zweifelnd an.
»Keine Sorge, sie muntert dich auf. Jeder nimmt das hier.«
Ich spüle sie mit einem Schluck Wodka hinunter, als ich nach einer Weile keine Wirkung spüre, schlucke ich noch eine. Plötzlich löst sich beim Tanzen alles um mich in schrille Farben auf, ich fühle mich wie auf einer Insel, im Rhythmus mit anderen Körpern treibend, jeder gehört mir und ich gehöre allen. In einer psychedelischen Orientierungslosigkeit verliere ich jeden Bezug. Als bräche ich durch eine Wand des Bewusstseins in eine unheimlich schöne, gefährliche neue Welt. Am nächsten Tag wache ich im Bett neben einer Frau auf, an die ich mich beim besten Willen nicht erinnere. Mein Kopf hämmert, ich erschrecke bei dem Gedanken, nicht zu wissen, wie ich hierhergekommen bin und was geschehen ist, wo und wann. Ich ziehe mich lautlos an und schleiche aus dem Zimmer. Wenigstens hat niemand meine Ausweise und mein Geld geklaut.
Ich liege stundenlang auf meinem Hotelbett, um bruchstückhaft die Bilder und Gefühle der vergangenen Nacht zusammenzusetzen. Die berauschende Schönheit der Drogen und wie sie jeden Widerstand bezwingen. Schlagartig öffnen sich mir die Augen, ich verstehe plötzlich die verführerische Macht dieser anderen Welt und die zwanghafte Sackgasse des Drogenmädchens, eine tiefere Ebene des Erlebens, die mir vorher nicht zugänglich war. Ich verlasse New York fluchtartig noch am selben Abend.
Jetzt weiß ich, worauf ich mich eingelassen habe, worüber ich schreibe. Anders als der Banker, der nicht wahrhaben will, das Mädchen nicht retten zu können. Er sucht sie in den gefährlichsten Gegenden New Yorks, bis er eines Tages in der Bowery auf sie stößt. Sie blickt ihn mit ausdruckslosen Augen an. Er ist sich nicht sicher, ob sie sich an ihn erinnert, dennoch entschließt er sich ein zweites Mal, sie aus dieser Misere herauszuholen. Als Vorstufe zur nächsten Entziehungskur mietet er ihr ein Zimmer in einer Pension.
»Niemand, der nicht selbst den Drogen verfallen ist, versteht die Zwänge, denen ich ausgeliefert bin und die mich nicht freigeben«, sagt sie ihm.
Daraufhin beschließt der Banker, Crack zu nehmen, nur ein einziges Mal, schwört er sich, aber wie sonst will er ihr helfen, ohne zu wissen, was in ihr vorgeht? Von einem Mal wird man nicht süchtig! Ein Mann, der sein Leben stets fest im Griff hat. Aber wie viele andere unterschätzt er die verhängnisvolle Gewalt der Droge. Trotz all seiner festen Prinzipien wird er von diesem Moment an wie im Sog mit nach unten gezogen. Seine Familie lässt nichts unversucht, ihn zu retten. Aber seine Abhängigkeit ist stärker als ihre Liebe, bis das Dunkel ihn endgültig verschluckt hat.
Central Park South. Nach fast zwei Jahren halte ich die erste Fassung in den Händen.
Ich spüre, wie dieser unvorstellbare Druck von mir abfällt. Aber beim stichprobenhaften Durchlesen werde ich zunehmend unsicher. Haben die Drogen des Mädchens oder die Nachwirkung der Pillen in dem New Yorker
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