Hotel van Gogh
Club nun auch mir den Sinn verstellt?
Von einem Tag zum anderen halte ich es in Paris nicht mehr aus. Françoise und ich besuchen Freunde auf ihrem Landgut in den Bergen hinter Saint-Étienne-du-Grès in der Nähe von Arles. Nach Monaten der Versenkung in der Geschichte des Mädchens unvermittelt in der sonnigen Trägheit der Provence. Wir besichtigen die Irrenanstalt von St. Rémy, in der van Gogh hoffte, sich aus den Klauen des Wahnsinns zu befreien. Dieser schmale Grat zwischen Brillanz und Wahnsinn, auf dem sich der Künstler bewegt. Van Gogh beschäftigte sich damals mit immer denselben Themen, dem Sämann, den Olivenhainen und den Bäumen im Hof der Anstalt. Ich denke an Central Park South , wie viele Entwürfe noch bis zu einem vorzeigbaren Manuskript? Natürlich kann einen das in den Wahnsinn treiben.
Bei einem meiner Besuche in New York hatte ich Lauren kennengelernt, eine Lektorin bei einem angesehenen Literaturverlag. Ihr gefiel die Geschichte des Mädchens, was aber nichts bedeute, fügte sie sofort hinzu, da ich das Buch in Deutschland veröffentlichen müsse, der deutsche Markt momentan einen Schrumpfungsprozess durchlaufe und daher für Debütautoren besonders schwierig sei. Auf jeden Fall müsse das Manuskript stehen , bevor ich es einem Verleger oder einem Agenten anböte. Put your best foot forward! Mehr als eine Chance gibt es nicht. Eine Fassung nach der anderen. Ich sehe die Besessenheit van Goghs in einem neuen Licht, der zwanghafte Drang, ein Thema immer wieder neu anzugehen. Wann gibt es nichts mehr hinzuzufügen?
Weiter nach Antibes an der Cote d’Azur. Françoise und ich wohnen im Hotel du Cap. Das zeitlos behäbig schwappende Mittelmeer. Die Traumwelt Südfrankreichs befreit mich nach und nach von dem selbstzerstörerischen Drogenmädchen, mit dem ich monatelang im Sumpf von New York gelebt habe.
Mein Frankfurter Freund Michael lädt uns in seine Villa außerhalb von Mougins ein. Das Zirpen der Zikaden erfüllt die Luft. Der milde Wind vom Lavendelduft gesättigt.
»Wann kann man dein Buch endlich lesen?«
Michaels Frage, die er wahrscheinlich ohne jeden Hintergedanken stellt, zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Nichts, was ich vorweisen könnte, in meinem früheren Leben hat mein Erfolg für sich selbst gesprochen.
»Schreiben ist ein langwieriger Prozess, so viel habe ich inzwischen gelernt. Du wirst dich gedulden müssen.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, geht es um deine Lebenskrise, die plötzlichen Zweifel des Vierzig- und Fünfzigjährigen. Das interessiert mich auch!«
»Damit hat es nichts zu tun. Es geht um Sucht. Das Destruktive der Sucht und die Aussichtslosigkeit, davon wieder loszukommen. Sucht findet sich überall, niemand ist frei davon. Auch Liebe ist Sucht.«
Dabei blicke ich zu Françoise. Jetzt im Zusammensein mit Michael und seiner Familie und all den vielen Bezügen zu meiner Vergangenheit fällt mir auf, wie weit ich seit meiner Entscheidung, Deutschland zu verlassen, von meinem alten Leben weggetrieben bin.
Tags darauf das Museum Fondation Maeght in Saint-Paul de Vence. Françoise gefällt die Verspieltheit Mirós. Mich trifft die Einsamkeit der Figuren Giacomettis, vielleicht weil ich beim Schreiben während der vergangenen Monate dieselbe Einsamkeit durchlebt habe.
Gebannt betrachte ich Giacomettis Skulptur Die Hand . Der ausgemergelte Arm, die Knochen in sich geschrumpft, und die überlangen, wie um Hilfe ringenden schmerzhaft gekrümmten Finger. Dabei denke ich an das Drogenmädchen, wie es die Hand den Passanten entgegenstreckt. Und niemand, der auf ihren stummen Hilfeschrei anspricht.
Ich nehme Françoise in den Arm. Eine Zeitlang stehen wir schweigend vor der Skulptur.
»Ich muss nach Paris zurück.«
Von neuem lebe ich mit dem Mädchen und dem Banker. Aus einem unerklärlichen Grund setzt er für sie alles aufs Spiel und verliert sich dabei selbst. Gebannt verfolge ich seinen aussichtslosen Kampf. Auch wenn wir abends ausgehen, ins Kino oder mit Freunden ins Theater, in Restaurants oder in die Nachtclubs von Saint-Germain, geben sie mich nicht frei. Immer wieder taucht vor mir die eine oder andere Szene auf, mit der ich mich tagsüber abgequält habe, und eine völlig neue Entwicklung lenkt mich von der Gegenwart ab.
Françoise bleiben meine Momente der völligen Abwesenheit nicht verborgen.
»Ewig bin ich nicht bereit, dich mit dem Mädchen zu teilen. Sie hängt wie eine Klette an dir. Oder du an ihr«, hält sie mir, in jetzt
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