Hotel van Gogh
Central Park bis hoch zum Reservoir an der neunzigsten Straße. In meiner Phantasie stelle ich mir das vornehme Leben der Wall-Street-Bankiers in den prunkvollen Gebäuden der Fifth Avenue vor, und unvermittelt nimmt die Geschichte des Mädchens Form an: Der Banker, der bei seinem morgendlichen Joggen auf das verwahrloste Mädchens stößt, die ihm wortlos die Hand hinstreckt und ihn anbettelt. Ihre tiefblauen Augen, die einzigen Farbpunkte in dem trostlos grauen Gesicht. Diese Augen vergisst er den ganzen Tag über nicht. Am nächsten Morgen steht sie an derselben Stelle im Park, gleichgültig hält sie ihm schlaff ihre Hand hin. Der Banker gibt ihr fünfzig Dollar. Sie bedankt sich nicht, zeigt keinerlei Reaktion. Wann steckt ihr jemand schon einmal fünfzig Dollar zu?
Central Park South. Mein Titel für ihre Geschichte.
Tagelang wandere ich durch die Stadt, um mich mit Bildern und Eindrücken vollzusaugen. Überall stoße ich auf das Drogenmädchen. Nach drei Wochen fliege ich mit einem Stapel Aufzeichnungen und Notizen nach Paris zurück. Ich habe eine überdimensionale Karte von Manhattan mitgebracht, auf der ich dem Banker und dem Mädchen nachfolge.
Mein Arbeitsrhythmus entwickelt sich wie von selbst. Ich beginne frühmorgens mit einem Lauf in den Tuilerien. Gegen acht Uhr sitze ich am Schreibtisch. Als Erstes lese ich noch einmal die Seiten des Vortages. Was mir gestern noch gefiel, wird heute bereits verbessert. Gegen drei oder vier Uhr nachmittags beginnt mein Kopf zu schwirren. Zwei Seiten schaffe ich, an guten Tagen vielleicht drei. Wenn es zu schnell geht, breche ich ab, als traute ich dem leichten Fluss der Worte nicht. Um Bestand zu haben, muss ich mir die Sätze abringen.
Über die Einsamkeit des Schriftstellers hatte ich mir zuvor nie Gedanken gemacht. Unter meinen wenigen Pariser Freunden spricht niemand gut genug Deutsch, um das eine oder andere Kapitel Probe zu lesen. In Deutschland möchte ich erst mit einem abgeschlossenen Manuskript auftreten. Aber ich bin nicht unglücklich, ganz im Gegenteil, ungestört gehe ich im Leben meiner Protagonisten auf, der zerstörerischen Freiheit des Drogenmädchens, die es für mich nie gab.
Überhaupt, die Zweisprachigkeit um mich, das Deutsch des Buches und das Französisch meines Alltags. Und ebenso die Wirklichkeiten, die sich ablösen oder zeitweilig nebeneinander bestehen und sich bedingen, die Wirklichkeit von Central Park South und meine Pariser Wirklichkeit. Die Wirklichkeit von Françoise, meiner Pariser Freundin, die vor einiger Zeit bei mir eingezogen ist, und die des süchtigen Mädchens.
»Du glaubst gar nicht, was sich das Mädchen heute wieder geleistet hat!«
Als ob ich nur niederschreiben müsste, was längst in seinem Lauf vorgezeichnet ist. Als hätten die Personen des Romans ein Eigenleben. In Françoises Blick liegt eine gespielte Eifersucht. Wenn wir zusammen schlafen, stelle ich mir das Mädchen und den Banker in ihrer Umarmung vor.
Ich war noch nie so glücklich.
Ich bin erstaunt über die Hartnäckigkeit des Bankers. Schließlich bringt er das Mädchen dazu, über sich zu erzählen. Früher studierte sie Design am Parson College in New York, bis Crack ihr den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Jetzt treibt sie nomadisch in der Wildnis von New York, hat jeden Kontakt zu ihren Eltern oder Geschwistern verloren. Der Banker denkt an seine eigene Tochter, seine Familie unterscheidet sich nicht sonderlich von der des Mädchens. Gerade auch mit Blick auf seine Tochter überredet er das Mädchen zu einer Entziehungskur. Doch sie weigert sich, zu ihrer Familie zurückzukehren, und ohne den familiären Rückhalt ist die Chance eines dauernden Entzugs gleich null. Der Banker überzeugt seine Frau, sie fürs Erste bei sich aufzunehmen. Gewaschen und ein wenig zurechtgemacht ist sie eher apart als schön, allerdings hat sie einen attraktiven Körper. Aber als die Frau des Bankers ihren Mann verdächtigt, dass er und das Mädchen etwas miteinander haben, wirft sie das Mädchen kurzerhand aus der Wohnung.
Der Banker regt sich furchtbar auf. Die Ärzte hatten ihm versichert, dass sie sich auf dem besten Weg zur Rehabilitation befand. Im Rückfall sinkt man tiefer ab als zuvor, das ist bekannt. Vergeblich wartet er auf sie an der Ecke zum Central Park South. Unversehens rückt das Scheitern des Bankers in den Vordergrund der Geschichte. Ich brauche Monate, um den allmählichen Verfall seiner geordneten Welt zu erkennen.
Ich fliege nach
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