Hotel van Gogh
war siebenundvierzig und Literaturnobelpreisträger, als er starb. Mit neunundvierzig habe ich erst angefangen.
Aber als läge darin nicht gerade mein Vorteil! All die Erfahrungen, die Sicherheit, zu wissen, was man will, jetzt in diesem Augenblick, und die Fähigkeit zur Geduld. Schreiben erfordert unendliche Geduld.
Ich sehne mich in die Einsamkeit des Schreibens zurück. Beim Schreiben war ich glücklich!
Ich schaue mir die Unterlagen an, die ich während der ersten Monate in Paris zu Sarahs Paris gesammelt habe. Aber nach dem Scheitern des Drogenmädchens fühle ich mich ihr erst recht nicht gewachsen. Das Drogenmädchen hat sich im Dunkel von New York verfangen, jedoch das Dunkel um Sarah ist mit nichts zu vergleichen.
Aber ich muss etwas unternehmen, um den enttäuschenden Versuchen, Central Park South bei einem Verlag unterzubringen, zu entfliehen. Ich nehme mir ein anderes Projekt vor, das ich in den Grundzügen auch bereits während meiner Unternehmerzeit skizziert hatte. Ein deutscher Familienroman über drei Generationen. In der ersten Generation steht ein während der Weimarer Republik erfolgreicher Schriftsteller, der sich von seinen Tantiemen am Rhein am Fuß des Siebengebirges eine Burg kauft, in der seine Nachkommen in der Nachkriegszeit im Gefühl vergangener Größe leben und unaufhaltsam, ohne es in ihrem Hochmut je zu erkennen, einem Untergang zutreiben.
Die Burgkinder.
Früher oder später werde ich veröffentlicht werden! Im Schreiben finde ich meine Zuversicht wieder, befreit von dem selbstzweiflerischen Grübeln. Ich fühle mich wie neu geboren.
Auf einer Party lerne ich Jean kennen, eine blonde kurzhaarige Amerikanerin mit leuchtend blauen Augen. Sie verbringt die Nacht bei mir. Als ich am nächsten Morgen vom Langlauf zurückkomme, hat sie in der Bäckerei unser Frühstück eingekauft. Sie strahlt eine unbändige Lebensfreude aus. Ich habe nie eine unabhängigere und selbstsichere, gleichzeitig aber auch zärtlichere Frau gekannt. Mit dem neuen Roman die neue Freundin.
Jean stammt aus einer wohlhabenden kalifornischen Familie. Ihr Urgroßvater ist während des Goldrauschs reich geworden, und bei jeder neuen Welle, etwa dem Öl in Südkalifornien, dem Immobilienboom oder dem Entstehen der Großbanken an der Westküste, ist ihre Familie oben auf der Welle mitgeschwommen. Natürlich gibt es in ihrer Familie wie überall Versager, doch in jeder Generation hat mindestens ein Familienmitglied das Ansehen der Familie durch neue Erfolge erneuert. Als vererbe sich die Erfolgstradition von einer Generation in die nächste, ganz anders als bei meiner Dichterfamilie am Rhein.
»Und dir kommt das nun zugute?«
Die Frage gefällt ihr nicht. Als traue ich ihr nicht zu, diejenige zu sein, die in ihrer Generation die nächsten Erfolge bringen würde.
»Immerhin habe ich es zur leitenden Partnerin der wichtigsten Anwaltskanzlei an der Westküste gebracht. Niemand hatte das vorher einer Frau zugetraut. Für mich sollte das allerdings nur eine Stufe auf dem Weg nach oben sein, ich war jung, gerade vierzig, mein Name wurde bei der Besetzung wichtiger Kabinettsposten in Washington gehandelt, Außenministerin oder Wirtschaftsministerin, alles schien möglich. Bis man bei mir Brustkrebs diagnostizierte.«
Mit einem Mal kommt mir Jean zerbrechlich vor. Als wäre die Heiterkeit, die sie ausstrahlt, nur eine Wand, hinter der sie sich versteckt.
»Brustoperation, Chemo, Bestrahlung und seitdem die Ungewissheit, dass die Krankheit jederzeit wiederkehren könnte. Umso mehr war ich entschlossen, nichts in meinem Leben zu ändern. Jetzt erst recht, beim Blick auf all die Möglichkeiten vor mir.«
Jean lächelt und blickt in den sanften Pariser Morgenhimmel.
»Vergangenes Jahr bestieg ich mit einer Gruppe von Frauen, die alle Brustkrebs überlebt hatten, den schneeweißen Vulkangipfel des Mount Shasta in Nordkalifornien. Wir brauchten zwei Tage zum Aufstieg. Klettern in Schnee und Eis, und dazu die Höhe, viertausendfünfhundert Meter. Aber ich habe es geschafft, und auf dem Gipfel dieses unbeschreibliche Gefühl der Unbezwingbarkeit. Beim Abstieg habe ich dann auf einem steilen Schneefeld nicht aufgepasst und bin abgestürzt. In der Tiefe schlug ich gegen einen Fels. Meine Begleiterinnen befürchteten das Schlimmste. Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Was ist mein Leben wert, was bedeuten meine beruflichen Erfolge, wo habe ich etwas Dauerhaftes bewirkt, einen bleibenden Unterschied gemacht?
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