Hotel van Gogh
Am Ende meiner Überlegungen entschloss ich mich, mein Leben neu zu beginnen.«
»Das kommt mir bekannt vor.«
»Vielleicht, aber ich möchte keine Bücher schreiben.«
»Was dann?«
»Wenn du einmal alles in Frage stellst, musst du dir für die richtige Antwort Zeit lassen. Auch dein Ausstieg erfolgte nicht über Nacht. Ich bin auf der Suche. Als Erstes habe ich eine Stiftung gegründet, die zum Ziel hat, Negatives zum Positiven zu wenden, im Festgefahrenen eine Änderung herbeizuführen, dem Außerordentlichen, das in jedem von uns steckt, eine zweite Chance zu geben. Nicht vor der Aussichtslosigkeit zu kapitulieren, das haben mich meine Krankheit und mein Unfall gelehrt.«
Ich denke an meine Burgkinder, die Dichterfamilie, die trotz all der ihnen gebotenen Möglichkeiten in Hochmut verfällt. Warum nicht Jeans Familie als Gegenpol der Familie am Rhein gegenüberstellen? Auch zu einem gewissen Grad Deutschland gegenüber Amerika, alt gegen neu, verengende Traditionen gegen Offenheit. Vergangenheit gegen Zukunft. Optimismus gegen Zaudern.
Die kalifornische Erfolgsfamilie wird zu meinem neuen Projekt. Der Gegensatz zu Jeans Familie verdeutlicht das Ausmaß des Dramas der Burgkinder. Jedem Abstieg steht irgendwo ein Aufstieg gegenüber, die Welt entwickelt sich ständig weiter, es gibt keinen Stillstand.
Ich habe noch nicht gelernt, dem Überschwang zu misstrauen. Völlig unerwartet teilt mir meine Agentin mit, sie gebe ihre Agentur auf. Ein französischer Verlag habe ihr die Repräsentanz in Deutschland angeboten. Damit könne sie leider nichts mehr für mich tun, aber sie empfiehlt mir eine frühere Lektorin eines Berliner Verlags, die heute auf freier Basis arbeitet.
»Überarbeiten Sie mit ihr das Manuskript. Das sollte einen Versuch wert sein.«
Kurz darauf höre ich von der Lektorin aus Berlin, dass ihr Central Park South gefallen habe, man müsse zwar einiges ändern und kürzen, trotzdem verstehe sie nicht, warum sich kein Verlag für das Manuskript gefunden habe. Sie sei überzeugt, dass sich daraus etwas machen lasse.
Ich treibe wieder auf dem Kamm der Welle. Für das Neue muss man kämpfen, der Erfolg wird einem nicht einfach auf einem silbernen Tablett gereicht. Aber damit finde ich mich ab, ich bin zu jedem Einsatz bereit.
Mit Die Burgkinder mache ich Fortschritte. Der erste Teil handelt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Amerikaner den Rhein bei Remagen überqueren und die Burg des Dichters auf dem gegenüberliegenden Rheinufer besetzen. Einer der Besetzer, stelle ich mir vor, ist Jeans Vater, der Spross der kalifornischen Familie. Der nächste Teil, fünfundzwanzig Jahre später, behandelt die zweite Generation während der Studentenunruhen in Berkeley. Jean sehe ich in der Rolle einer der Drahtzieherinnen der Revolte, nicht so sehr wegen Vietnam, sondern aus jugendlicher Auflehnung gegenüber ihrer Familie. Der dritte Teil findet um die Jahrtausendwende statt. Die Tochter des Dichters, die sich weiterhin verzweifelt an den Ruhm ihres Vaters klammert, symbolisiert die Stagnation der Familie am Rhein.
Jean lebt mir den Glauben an sich selbst vor, trotz aller Rückschläge das ursprüngliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Meine Zufriedenheit beflügelt mich. Obwohl ich weiß, dass Jean nicht ewig in Paris bleiben wird. Vor ihrer Rückreise nach Kalifornien besteht sie darauf, mit mir nach Auvers-sur-Oise in der Nähe von Paris zu fahren. Nicht wegen van Gogh, der sich dort erschossen hat, sondern wegen Gérard Dechaize, der vor Jahren vor dem Todeshaus van Goghs in einen schweren Unfall verwickelt war und, als er nach einem lange Zeit ungewissen Ausgang überlebte, beschloss, seine erfolgreiche internationale Marketingkarriere aufzugeben, um sich ganz der Erinnerungsstätte van Goghs zu widmen. Mit diesem Projekt seinem Leben einen neuen Sinn zu geben, das Negative seines Unfalls ins Positive zu wandeln. Als Jean davon erfuhr, beschloss sie sofort, ihn durch ihre Stiftung finanziell zu unterstützen.
»Gérard ist ein Mann voll sprühendem Enthusiasmus. Zur Krönung seines Projekts hofft er, ein Originalgemälde van Goghs an dessen letzten Schaffensort zurückzubringen. Bei den Preisen, die auf dem Markt für van Goghs bezahlt werden, ist dies so gut wie unmöglich, aber bin ich überzeugt, dass ihm selbst das noch gelingen wird.«
Einige Tage nach dem Abstecher nach Auvers geben ihre Freunde für sie ein Abschiedsessen. Ich sitze neben einer Journalistin, die für das
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