Hotel van Gogh
idealer Zeitpunkt, anstelle nichts tuend zu warten, mit Johanna van Gogh zu beginnen. Mir schwebt eine historische Novelle vor, darüber, wie sich ihre Nebenrolle im Leben van Goghs plötzlich bei der Verwaltung des Vermächtnisses des großen Malers in eine Hauptrolle verwandelte.
Das Material in der Bibliothek im Van-Gogh-Haus bietet den idealen Vorwand, wieder in Auvers zu erscheinen. Gérard hat keine Einwände, dass ich dort in der Bibliothek arbeite.
»Was ist eigentlich aus den van Goghs geworden?«
»Theos Nachfahren leben in Holland. Ihnen verdanken wir das Van-Gogh-Museum in Amsterdam.«
»Hast du eigentlich je bereut, in Auvers geblieben zu sein?«
»Damals hat mir nach meinem Unfall jeder von meinem Plan abgeraten. Nach allem, was passiert ist. Aber ich musste einfach.«
»Wir sind beide Aussteiger! Allerdings hast du es geschafft.«
»Nicht ganz, es fehlt noch ein original van Gogh. Ich hoffe auf den großzügigen Gönner. Bis dahin versuche ich, durch kleine und größere Spenden dem Ziel näher zu kommen. Für tausend Euro kann man einen Schlüssel zum Van-Gogh-Haus kaufen, für fünftausend zusätzlich einen zu seiner Mansarde. Sie passen übrigens. Das ist mühsam, aber mehr als nichts.«
»Ich kaufe dir beide Schlüssel ab. Eine kleine Gegenleistung nach allem, was du für mich getan hast.«
»Ich bin mir nicht sicher, dass ich viel für dich getan habe. Du hast bestimmt mehr erwartet, aber es gibt Grenzen.«
Ich bleibe zwei Tage in Auvers. Im Stillen hatte ich gehofft, Ziba im Van-Gogh-Haus zu begegnen, Johanna war schließlich ihr Vorschlag, wir hatten es als unser gemeinsames Projekt besprochen. Und die Vorstellung, mit ihr in der kleinen Bibliothek zu schlafen. Aber es sollte nicht sein.
Am Tag, als die Amerikaner im Irak einfallen, teilt mir die Lektorin mit, dass sie mit dem Manuskript durch sei, mit dem zusätzlichen Hinweis: Ich finde es erstaunlich, wie sehr Du beim Schreiben Fortschritte machst. Du wirst von Mal zu Mal besser!
Das ist wenig Trost. Ich dränge auf einen Termin, aber sie will erst ihre Tochter in Kasachstan besuchen, da sie befürchtet, dass auch die umliegenden Länder in den Krieg mit dem Irak hineingezogen werden könnten. Überhaupt, dieser Krieg, sie könne momentan an nichts anderes denken. Im Klartext heißt das, frühestens in vier Wochen habe sie Zeit.
Vier Wochen, die nächste Ewigkeit.
Ich verfolge gebannt auf dem Bildschirm die surreal wirkenden nächtlichen Attacken, die den gräulichen Himmel durchschneidenden grellen Leuchtsonden, die erdbebenartigen Erschütterungen der Explosionen und die vulkanhaften Rauchkegel. Die geheimnisvolle arabische Nacht in grausamer Verzerrung.
Nachdem man dem Ausbruch des Krieges machtlos gegenüberstand, hofft nun jeder auf ein schnelles Ende. Natürlich ist auch klar, dass mit dem Ende der Kriegshandlungen noch nichts entschieden ist. So viel wusste man bereits beim ersten Golfkrieg, und daran hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert.
Vergeblich suche ich in den Zeitungen, im Fernsehen oder im Internet Nachrichten über die iranischen Freiheitskämpfer im Irak. Haben sie sich gegen die Amerikaner auf die Seite Husseins geschlagen oder nutzen sie die Unruhen in der Region für ihre eigenen Aktionen im Iran? Wurden die in Auvers lebenden Männer zur Verstärkung ihrer Einheiten in den Irak geordert? Was ist mit Zibas Schwager geschehen? Wenn er in den Irak geschickt worden wäre, hätte sich Ziba doch bei mir gemeldet. Tagelang denke ich nur an sie. Mit der Zeit schwindet auch diese Hoffnung. Und wahrscheinlich hat so alles seine Richtigkeit.
Nach vier Wochen sitze ich im Flugzeug nach Berlin. Um mich abzulenken, greife ich eine Tageszeitung. Die Überschrift in Fettbalken lautet Mujahedin-e Khalq von der Europäischen Union auf die Terroristenliste gesetzt . Ich tippe auf eine dieser Islamistengruppen im Verbund mit Al-Qaida. Schon im Begriff umzublättern, sehe ich einen Verweis auf Auvers-sur-Oise, dem Sitz der Gruppe in Europa. Wie benommen lese ich weiter. Es war ja bekannt, dass ihre Freiheitskämpfer vom Irak aus im Iran agierten. Aber Terroristen? In einer Presseerklärung streiten sie die Anschuldigungen aufs Heftigste ab: Ihnen gehe es allein um den Sturz des Mullah-Regimes im Iran, mit terroristischen Islamisten verbinde sie nichts, ganz im Gegenteil, sie stünden für eine Trennung von Staat und Religion und für demokratische Prinzipien.
Mit einem Mal ist der Schleier gelüftet, vor aller Welt
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