Hotel van Gogh
wird jemals wieder so sein wie bisher.
Nachts taumeln brennende Flugzeuge durch mein Gehirn.
Bei meinem Lauf früh am nächsten Morgen durch die Tuilerien ist der Park geisterhaft leer, als liege ein Alptraum über Paris. Und als wisse niemand so recht, wie es nach diesem Ereignis weitergehen soll.
Das Fernsehen zeigt Szenen jubelnder Menschen in vielen arabischen Ländern, die den Angriff auf Amerika feiern. Tanzende Palästinenser in Gaza. Meine Entrüstung steigert sich in blanken Hass. Welten, die zwischen uns liegen, und in meiner Vorstellung taucht Zibas Schwager auf.
Wie betäubt sitze ich vor meinem Computer. Nicht nur Sarahs Liebesgeschichte, jede Liebe hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Araber, die an der Entführung Ben Barkas beteiligt sind, erscheinen in neuem Licht. Ich schreibe eine Szene, in der sie Steffen, von dem sie glauben, dass er ihnen nachspürt, durch das Hurenviertel um die Rue Saint-Denis jagen und eine Frauenstimme aus den Fußgängern hinter ihnen her zischt: »Dreckige Araber!«
Es dauert lange, bis ich zu Sarah zurückfinde. Ich brauche jetzt ihre Kraft, ihre Lebensfreude, ihre Neugierde und ihre rätselhafte Schönheit. Und ihren Idealismus. Bis ich bemerke, dass ich beim Schreiben erneut Sarah und Ziba durcheinanderbringe. Ich frage mich, wie sich die Attentate in Amerika auf ihr Leben auswirken. Vergeblich rufe ich im Van-Gogh-Haus an, Gérard ist meine einzige Verbindung zu ihr.
Ben Barka zwingt mich zu anderen Gedanken. Zu seiner Zeit spielte Religion eine untergeordnete Rolle, es ging um politische Macht. Was ist geschehen, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, woher plötzlich diese religiöse Intoleranz? Ein verzweifeltes Aufbäumen gegen die über die neuen Medien bis in die letzte Ecke der Welt vordringende Aufklärung? Die Angst vor der Flut an Informationen, die überall festgefahrene Gewohnheiten in Frage stellt?
Je mehr ich mich mit dem Islam beschäftige, umso mehr sehe ich ein, dass es in dieser Religion keinen Platz für Ziba und mich gibt. Ich muss sie aufgeben. Und habe ich sie überhaupt je besessen? Dieser eine Kuss, die Umarmung, das flüchtige Abtasten ihres Körpers? Ich habe mich in der Einsamkeit meines Schreibens in etwas hineingesteigert, tatsächlich spielt sich unsere Beziehung nur in meiner Phantasie ab.
Tag für Tag sitze ich vor dem Computer und lasse mich durch nichts ablenken, kein Telefon und keine E-Mails. Mit Sarah und dem Studenten durchlebe ich diese zwei Wochen Ende Oktober 1965, den Zufall und die Unmöglichkeit ihrer Liebe, die Schatten der Vergangenheit, die Zwänge der Gegenwart und vor allem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Gegen drei oder vier Uhr nachmittags tauche ich wie aus einer Trance auf, esse eine Kleinigkeit in einem der Bistros des Viertels oder trinke Kaffee in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Germain. Meine Nächte in Paris verschmelzen in ihrer Gleichförmigkeit in ein erinnerungsloses Bild. Niemand erkundigt sich, wie es mit meinem Buch aussieht. Zum Glück brauche ich wenig Schlaf. Beim Joggen klärt sich mein vom Rauch und Alkohol benebelter Kopf, während ich mir zurechtlege, wie es heute mit Sarah weitergehen wird. Sie bleibt unvorhersehbar, von einem Tag zum anderen. Im Gegensatz zu dem Drogenmädchen widersetzt sie sich den zerstörerischen Einflüssen, sie hält bis zum Letzten an ihren Idealen fest.
Sarah ist zum Sinn meines Lebens geworden. Als ich kaum noch mit ihr gerechnet habe, ruft Ziba an.
»Willst du mich überhaupt wiedersehen?«
Ohne es zu ahnen, hat Sarah während all der Zeit ihre Doppelrolle gespielt, war immer gleichzeitig auch Ziba. Nun fordert Ziba ihren eigenen Platz.
»Ich habe morgen im Van-Gogh-Haus zu tun. Wenn du nichts anderes vorhast, könnten wir uns dort treffen.«
Als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Gérard schaut mich überrascht an, als ich am nächsten Tag unangekündigt erscheine.
»Mit dir hatte ich nicht gerechnet.«
»Gelegentlich muss man sich vom Schreiben lösen. Und das Van-Gogh-Projekt schwebt mir weiterhin vor. Ist Ziba hier?«
»Sie sollte jeden Moment kommen. Hast du mit ihr gesprochen? Warum hörst du nicht auf mich, das kann nicht gutgehen!«
»Gérard, wir sind keine Kinder!«
»Ich muss gleich zu einer Besprechung nach Paris, also tu nichts, was du bereuen könntest, mein Rat an dich.«
Ich warte im Restaurant auf sie. In meinen Träumen hatte ich mir oft ausgemalt, mit ihr allein zu sein. Ohne Gérard, ohne ihren
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