Hotel van Gogh
meine Überraschung hält sich in Grenzen.«
In ihrer Handtasche klingelt das Telefon.
»Guten Morgen, Frau Bucher, hier ist Zapf, aus Frankfurt. Haben Sie die Frankfurter Allgemeine Zeitung von heute schon gelesen?«
»Ich bin in Paris.«
»In Paris, warum haben Sie mir das gestern nicht gesagt? Allerdings, wenn Sie schon dort sind, dann sehen sie doch mal nach, was Sie an Manuskripten auftreiben können. Herr Heller hatte eine Novelle oder einem Roman über Johanna van Gogh erwähnt, das wäre in der gegenwärtigen Situation das ideale Nachfolgeprojekt. Und eventuell gibt es ja auch sonst noch Aufzeichnungen, Notizen oder Kurzgeschichten. Aber deswegen rufe ich nicht an, sondern wegen der FAZ . Im heutigen Feuilleton steht ein Artikel mit der Überschrift: Schriftsteller begeht Selbstmord im Sterbezimmer van Goghs . Sie sehen, wir gehen gleich voll an die Sache ran. Das wird ein Riesenerfolg! Also, wir können uns gratulieren, Sie und ich, dass wir uns durch die Umstände nicht von dem Projekt haben abbringen lassen.«
Sie verschweigt die neuesten Untersuchungsergebnisse. Wozu auch, die Veröffentlichung des Romans hat ein Eigenleben angenommen.
»Ich verstehe diese Verleger nicht. Erst lassen sie dich jahrelang am ausgestreckten Arm verhungern, und dann wollen sie dich innerhalb von vierundzwanzig Stunden berühmt machen.«
»Du hättest ihm trotzdem reinen Wein einschenken müssen.«
»Zu viele Fragen sind noch unbeantwortet. Das Einzige, das unverrückbar feststeht, ist, dass er im Sterbezimmer van Goghs tot aufgefunden wurde. Und nur das interessiert doch den Leser! Auch wenn es Selbstmord gewesen wäre, hätte dies nichts mit van Gogh zu tun gehabt, sondern mit einer Frau. So viel wissen wir mittlerweile.«
»Irgendwie hast du dich verändert, Sabine.«
Sie tut seine Bemerkung achselzuckend ab. Vor dem Verlassen der Wohnung wirft sie schnell noch einen Blick aufs Telefon in der Küche. Kein Lichtsignal, das einen gespeicherten Anruf anzeigen würde, obwohl sie doch mindestens drei Nachrichten aufs Band gesprochen hat. Justine muss sie abgehört und dann gelöscht haben. Aber wenn sie vorgewarnt gewesen wäre, hätte sie vergangene Nacht nicht so verzweifelt auf die Mitteilung von seinem Tod reagiert, denn ihr Entsetzen war nicht gespielt. Also muss außer ihr noch jemand Zugang zur Wohnung haben.
Sie schreibt ihre Telefonnummer mit der Bitte, sie sofort zurückzurufen, auf einen Zettel und legt ihn auf den Tisch im Gang.
5.
Nie hätte Johanna van Gogh geglaubt, dass sie, nachdem sie sich von den van Goghs, von Theo und Vincent und ihrem Wahnsinn, losgesagt hatte, dem Ruf als Vollstreckerin ihres Werks folgen würde.
Im Rückblick hat aber alles seinen Sinn. Erst musste sie hier auf dem Land ihre eigene tiefe Einsamkeit erfahren, um für Vincents verzweifelte Hilferufe aus seinen Briefen offen zu sein. Um die schicksalhafte Verbindung Theos zu Vincent frei von jeder Eigensucht zu erkennen. Und um ihre Liebe zu Theo neu zu entdecken.
Es sei nur eine Frage der Zeit, hat Theo, wenn sie früher ihre Zweifel äußerte, unablässig betont. Jetzt ist Vincents Zeit gekommen.
Woher will ich das wissen?, fragt sie.
Ich weiß es einfach!
Sie weiß auch, dass es sich bei den Impressionisten in erster Linie um eine französische Entwicklung handelt, der Befreiungsschlag gegen eine verstaubte Pariser Akademiekunst, und dass der Durchbruch in Paris die Voraussetzung für den Erfolg auch anderswo ist. Sie hat das nicht erfunden, auch diese Einsicht stammt von Theo.
In Theos Unterlagen stößt sie auf den Artikel des Kunstkritikers Georges-Albert Aurier, der kurz vor Vincents Entlassung aus St. Rémy erschien. Sie erinnert sich, wie damals jeder darüber sprach und dass nur deswegen Durand-Ruel sich die Bilder in ihrer Wohnung angesehen und später seine Galerie für eine Ausstellung angeboten hatte, zwar lediglich einen Raum, aber immerhin, dem wäre irgendwann der nächste Schritt gefolgt. Erst Aurier und dann Durand-Ruel, eine bessere Referenz für Paris gibt es nicht.
Ob das Angebot von Durand-Ruel noch Bestand hat? Seitdem ist über ein Jahr vergangen. Ein Jahr bedeutet eine Ewigkeit im schnelllebigen Kunstbetrieb.
Sie wendet sich an Andries in der Hoffnung, dass er sie bei ihrem Vorhaben unterstützen würde. Gefühlsmäßig glaubt sie, über einen Geschäftsmann bei dem Galeristen eher etwas zu erreichen, als wenn sie ihn als Frau anspricht.
Paris wartet förmlich auf Vincents erste umfassende
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