Hotel van Gogh
passt. Aber man sieht immer nur die Oberfläche, nicht was sich hinter den Kulissen abspielt.
»Wir haben hier vor ein paar Tagen noch zusammen an einem Manuskript gearbeitet. Er schien kerngesund. Woran ist er gestorben?«
»Er wurde erschossen.«
Entsetzt blickt die Frau Sabine an. Ohne Fragen zu stellen, als erwarte sie eine zusätzliche Erklärung.
»Vor einigen Tagen in Auvers, mehr weiß ich nicht.«
»Er war in Auvers verabredet, mit einer Iranerin, glaube ich. Er hatte sich in letzter Zeit viel mit dem Islam beschäftigt, besonders mit der Rolle der Frau im Islam. Ich nahm an, das hätte mit seinem nächsten Roman zu tun.«
Plötzlich sieht Sabine den Vorfall in neuem Licht. Arthur Heller hielt sich in der fraglichen Nacht bei der Iranerin auf, und im Morgengrauen, auf dem Weg zurück in das Gasthaus, wurde er von Iranern, mit denen er sich gestritten hatte, überfallen und angeschossen und hat es gerade noch in das Van-Gogh-Haus geschafft. Aber dann wäre er doch mitten in die Aktion der Polizei geraten.
»Es hat nichts mit den Iranern zu tun.«
»Warum nicht?«
Sabine fehlt eine plausible Erklärung. Ein betretenes Schweigen tritt ein.
»Frag sie doch mal, woher sie Heller kennt«, regt Peter an.
Sabine hatte in der Aufregung vergessen, dass er kein Französisch spricht. Die Frau blickt zu ihm auf und antwortet plötzlich in fließendem Deutsch.
»Vor einigen Jahren, als es mir wahnsinnig schlecht ging, sind wir uns im Jardin du Luxembourg begegnet, jedenfalls behauptet er das. Er nahm mein Schicksal, oder wie er es sich vorstellte, als Vorlage für einen Roman über eine Drogenabhängige in New York, über das Dunkel, vor dem niemand sicher ist. Vor einigen Wochen hat er mich auf der Straße wiedererkannt. Er bat mich, das Manuskript zu lesen. Übrigens, ich heiße Justine.«
Sabine ist völlig durcheinander. Die Frau spricht deutsch und kennt ihren Onkel, hält sich hier mit seiner Erlaubnis auf und hat seine Manuskripte gelesen. Mit einem Mal fühlt sie sich hundemüde. Es hat keinen Sinn, sie noch weiter auszufragen, das muss man auf morgen verschieben, morgen früh und dann mit klarem Kopf.
»Es tut mir leid, dass wir Sie mitten in der Nacht gestört haben. Ich heiße Sabine Bucher, wir wohnen im Hotel nebenan an der Rue des Beaux-Arts. Ich schlage vor, dass wir uns morgen in aller Ruhe weiter unterhalten. Sie kennen meinen Onkel besser als ich.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust, diese Type allein in der Wohnung zu lassen. Ihre letzte Chance, groß abzuräumen«, sagt Peter auf dem Weg zum Hotel.
»Er hat ihr die Wohnungsschlüssel gegeben. Es war seine Entscheidung.«
»Aber jetzt, nachdem sie weiß, dass er nicht zurückkommen wird? Ich habe ein ungutes Gefühl.«
Sabine will nur noch schlafen, alles andere ist ihr gleichgültig. Aber eine bohrende Unruhe hält sie wach. Sie steht auf und tritt ans Fenster. In der Wohnung ihres Onkels ist es dunkel.
»Vielleicht schläft sie.«
»Oder sie durchwühlt die Schränke in den anderen Zimmern. Und dann setzt sie sich auf Nimmerwiedersehen ab.«
Wenn sie jetzt tatsächlich die Wohnung ausraubt, weil ich ihr dazu die Möglichkeit gelassen habe, denkt Sabine? Aber sie muss doch gespürt haben, dass sie ihr vertraute, so wie ihr Onkel ihr vertraut hat. Wie wird sie sich entschließen, für ihr Schattendasein oder die Wirklichkeit mit uns?
Was hat ihr Onkel mit dieser Frau gehabt? Hat er sie wie eine Marionette an den Fäden geführt? Immer mehr hat Sabine das Gefühl, dass er auch sie an diesen Fäden in den Händen hält.
Wenn sie nur endlich einschlafen könnte!
Am nächsten Morgen frühstücken sie in einem der kleinen Straßencafés in der Nachbarschaft. Ein weiterer heißer Sommertag kündigt sich an. Sabine ist müde und unruhig, Peter dagegen bestens gelaunt, Tourist in Paris, man müsse die Dinge nehmen, wie sie kommen, meint er.
»Was hast du eigentlich gestern Nacht damit gemeint, dass nur das Jetzt zählt?«
Sie blickt ihn ohne zu antworten an.
Nach dem Frühstück gehen sie zur Wohnung. Von Justine keine Spur. Wenigstens sieht es nicht danach aus, als hätte sie den Schreibtisch oder die Schränke ausgeräumt.
»Die werden wir nie wiedersehen!«
»Sie hat einen Spalt in das Leben meines Onkels geöffnet, nur um ihn dann gleich wieder hinter sich zu schließen.«
»Wenn du zu lange im Dunkel gelebt hast, wirst du lichtscheu. Natürlich wäre es mir auch lieber, wenn sie hier wäre und uns was erzählen könnte. Aber
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