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Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Titel: Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: GABAL Verlag
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die Fluggesellschaft. Die Piloten wollten es deshalb bis München schaffen, denn dort war die Wartungsbasis der Hapag-Lloyd.
    Zunächst sah alles ganz gut aus …
    Es sah zunächst auch ganz gut aus: Das Flight-Management-System zeigte grünes Licht: alles okay, alles normal. Dieses Herzstück der Navigation und Flugsteuerung, das in der Mittelkonsole eingelassen ist, sieht ein bisschen wie ein überdimensionierter Taschenrechner aus. In diesem Prozessor werden alle flugrelevanten Daten gebündelt und für die Piloten aufbereitet. Das FMS bekam natürlich auch die Daten vom Tankfühler und berechnete nach vorgegebener Formel die Reichweite. Weil es aber den erhöhten Verbrauch durch das ausgefahrene Fahrwerk gar nicht in der Rechnung drin hatte, lagen die von ihm ausgegebenen Werte für die Reichweite viel zu hoch. Dass die sich ständig aktualisierenden Berechnungen wegen der schnell abnehmenden Treibstoffmenge eine sich immer schneller verkürzende verbleibende Flugstrecke anzeigten, sahen die Piloten nicht. Sie fühlten sich sicher, weil das FMS keine Warnmeldung ausgab.
    Über dem Balkan fing es auf einmal an zu piepen: Der direkt mit den Tanks verbundene Fühler meldete, dass die Notreserve von 1600 Litern Treibstoff unterschritten war. Immer noch hätte die Maschine sicher im 75 Kilometer entfernten Zagreb landen können; doch die Piloten wollten weiter. Wien war nun das Ziel. 220 Kilometer. Mit 1600 Litern Kerosin. Abzusehen, dass das nicht hinhaut. Aus einer eigentlich ungefährlichen Situation war ein Triple-Rot geworden.
    22 Kilometer vor der Landebahn in Wien setzten die Triebwerke aus – der Sprit war verbraucht. Im Gleitflug ging es weiter. Sie schafften es bis Wien – nicht ganz. 600 Meter vor der Landebahn legten sie einen Crash hin. 26 der 142 Passagiere wurden leicht verletzt, das Flugzeug war nur noch Schrott.
    Und das ist das absolut Verrückte an dieser Geschichte: Es war ja alles andere als ein Routineflug! Die Piloten haben nicht geschlafen, sondern sie waren alarmiert, aufmerksam, angespannt. Sie wussten, dass das Fahrwerk nicht eingefahren war. Sie wussten, dass Treibstoff ein Thema war. Sie wussten, dass es knapp werden musste. Sie hatten die ganze Zeit die Treibstoff-Anzeige und die Fuel-Flow-Anzeige vor Augen. Hier wurde der reale Stand angezeigt. Sie hätten nur auf diese Anzeigen schauen und kurz im Kopf überschlagen müssen.
    Jedem Achtklässler wäre nach kurzer Zeit klar gewesen, dass München keine Option war. Aber die Piloten verließen sich auf das FMS. Denn das macht ja auch sonst immer alle Arbeit für sie. Die Gewohnheit hatte mehr Gewicht als die Realität. Selbst in dieser Ausnahmesituation haben sie sich auf das gewohnte Procedere verlassen. Denn das waren sie gewohnt. Das war komfortabel. Das war bequem.
    Und das ist es, worum es geht: Bequemlichkeit. Du musst nicht lange nachdenken, was du essen willst. Du nimmst das, was du immer nimmst. Du musst dich nicht mit Zweifeln auseinandersetzen, ob das, was du hast, auch das Optimale, das Richtige für dich ist. Du hast deinen Streuselkuchen in der Hand und die Frage, ob die Sachertorte nicht doch noch ein bisschen leckerer gewesen wäre, stellt sich dir gar nicht erst.
    All die genannten Vermeidungs- und Vertagungsmechanismen zahlen auf eines ein: Bequemlichkeit. Das Wort Bequemlichkeit hört sich allerdings so gemütlich, so kuschelig an. Mir ist der Begriff Trägheit lieber.
    Aus Trägheit haben die Piloten der Hapag-Lloyd-Maschine das Flugzeug geschrottet. Aus Trägheit bleibst du bei dem Job, den du schon seit zwanzig Jahren hast, und traust dich nicht, dich mit deinem Know-how selbstständig zu machen. Aus Trägheit ist das Schlecker-Unternehmen über Jahrzehnte beim gleichen Geschäftsmodell geblieben. Das war genial – in jedem Kuhdorf gab es eine Filiale. Der Erfolg war gigantisch und die Schlecker-Familie gehörte zu den reichsten in Deutschland. Und plötzlich war es aus. Die Bemühungen, das Modell zu variieren, in letzter Minute noch die Kurve zu kriegen, kamen zu spät.
    Trägheit lässt dich in bekannten, gewohnten Bahnen bleiben. Wie Unternehmen. Und ganze Gesellschaften. Keine Änderungen. Keine Entscheidungen. Die Meinung, die Einstellung steht fest. Alles, was für deine Sichtweise spricht, wird aufgenommen. Alle widersprüchlichen Informationen werden ausgeblendet. Wenn die Gewohnheit wichtiger ist als die Realität, dann resultiert daraus pure Realitätsverzerrung.

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