Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
Entführungsflüge zeigten der Welt, wie umfassend das Selbstverständnis der USA unter dem Angriff der Terroristen gelitten hatte. Das Land, das in der Welt für Freiheit und Demokratie stand, trat genau diese Werte offen mit Füßen. Selbst-Delegitimierung nennt man so etwas. Die Folgen waren fatal: Auch wenn die USA noch so viel Wind machten und noch so hektische Aktivität verbreiteten – es waren nicht sie, die das Heft in der Hand hatten. Sie reagierten nur. Aus den momentanen Opfern eines mörderischen Anschlags waren Loser auf Dauer geworden. Weil sie sich so fühlten.
7. Juli 2005 – hmm, was war da noch mal?
Dass es auch ganz anders geht, zeigt der Bombenanschlag von London ein paar Jahre später. Hmm, wann war das noch mal? 9/11 hat jeder im Kopf, den 7. Juli 2005 kaum noch jemand. Ist das hart? Ja, natürlich. Die Angehörigen der 52 Opfer und die 700 zum Teil schwer Verletzten, Verstümmelten, die traumatisierten Helfer werden dieses Datum bestimmt nicht vergessen. Aber alle anderen haben es schon vergessen. Und damit den perfiden Plan der Terroristen durchkreuzt. Die Selbstmordattentäter von New York haben ihr Ziel erreicht, ihr Soll übererfüllt. Nicht in den kühnsten Träumen haben sich diese Mörder und ihre verbrecherischen Hintermänner vor dem 11. September 2001 ihren durchschlagenden Erfolg vorstellen können. Die vier Attentäter in London dagegen haben genau 752 Menschen verletzt und ihrer Gesundheit, wenn nicht sogar ihres Lebens beraubt. Nicht eine ganze Nation.
Zeige ich nicht genug Respekt vor den Leiden wirklicher Opfer? Doch, auf jeden Fall! Jedes Opfer, egal ob durch Terror oder Verkehrsunfall oder dumpfbackige Schlägertypen zu Schaden gekommen, ist eines zu viel. Ihnen gilt mein ganzes Mitgefühl. Doch nur Dummköpfe und Traumtänzer behaupten, das Leben sei gerecht oder gar fair. Es gibt immer ein Risiko. Das Risiko, in die falsche Familie hineingeboren zu sein, die Weichen falsch gestellt zu haben, und das Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Jeder Mensch hat Alternativen. Dies zu begreifen ist immens wichtig. Wer in einem Unfall unverschuldet schwer verletzt wird, einen Teil seiner Beweglichkeit oder Schaffenskraft verliert, kann den Rest seines Lebens damit zubringen, die Ungerechtigkeit des Lebens zu beklagen. Oder er kann aus dem, was ihm geblieben ist, das Beste machen. Du kannst sechs Wochen lang Opfer sein, so lange, bis deine Knochen wieder zusammengewachsen sind, oder sechzig Jahre. Deine Wahl!
Richard Oetker wurde 1976 als Student entführt und in eine kaum 1,50 Meter lange Holzkiste gezwängt, in der er nur seitlich in der Hocke liegen konnte. 47 Stunden in dieser Kiste und 220-V-Stromschläge aus einer vom Entführer gebastelten Maschine, die Oetker an einem Ausbruchsversuch hindern sollten – die der Entführer aber versehentlich selbst auslöste –, ließen ihn mehr tot als lebendig zurück. Fast zwanzig Jahre lang musste Oetker immer wieder operiert werden, bis heute ist er schwer gehbehindert. Ein Leidensweg, der seinesgleichen sucht. Und trotzdem sagt Richard Oetker in einem Interview mit der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom März 2011: »Ich bin heute ein sehr glücklicher Mensch.« Und: »Die Entführung hat mir viel Kraft gegeben.« Wenn er in diesem Interview auch noch sagt: »Unterm Strich ist das eine Erfolgsgeschichte« – heißt das, dass Richard Oetker seine Geschichte leugnet? Nein. Allein schon die Tatsache, dass er im Vorstand des »Weißen Rings« sitzt, eines Vereins, der sich für Opfer von Verbrechen einsetzt, beweist, dass von Verdrängung hier nicht die Rede sein kann. Nur von Mut, dem unbegrenzten Willen, sich sein Leben nicht kaputtmachen zu lassen, und von einem Selbstbild als Gestalter, nicht als Opfer. Sogar als Richard Oetker noch in der unsäglichen Kiste gefangen war, fragte er sich: »Was mache ich denn jetzt?«
Aus dem, was war, wird der Strick gedreht, der heute das Opfer fesselt.
Was für ein Unterschied zu all denen, die sich in ihrer selbst gewählten Opferrolle wohlfühlen! Dann richtet sich die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Lösungsmöglichkeiten, also auf die Zukunft, sondern allein auf die Vergangenheit. Im schlimmsten Fall auf pure Rache. Ich kenne Menschen, die meinen, sie hätten nie Chancen gehabt, weil ihre Eltern ihnen das Leben schwer gemacht haben, sie nie unterstützt und bestätigt haben. Es mag sein, dass die Eltern keine guten Eltern waren. Das ist gar nicht so selten. Aber sein Leben
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