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Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Titel: Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: GABAL Verlag
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Geschwindigkeit nicht damit fertig wird. Sicht fast null. Mit verkrampften Schultern beugt er sich über sein Lenkrad. Der Panik nahe klammern sich seine Hände um das Steuer, die Knöchel sind vor Anstrengung weiß. Ralf kann nicht vor und nicht zurück. Mist!
    Warum, zum Teufel, fährt der Lkw-Fahrer nicht für ein paar Sekunden langsamer, damit er ihn überholen kann, ohne schneller werden zu müssen? Der muss doch sehen, in was für einer vertrackten Lage Ralf steckt! Und sein Hintermann, dieser Vollidiot, sollte mal seine Augen aufmachen. Es ist doch brandgefährlich, so nah an der Stoßstange zu kleben. Er muss Ralf doch nur in Ruhe wieder einscheren lassen, dann kann er gerne überholen und sich den Hals brechen. Dass er durch die Unfähigkeit dieser Fahrer so in Gefahr gebracht wird, macht Ralf fertig.
Festgefahren bei 80 km/h
    Trägheit lässt die Menschen lieber im Bekannten verharren, als dass sie sich in Neues vorwagen – das wissen wir. Das Schmiermittel für diesen Mechanismus: Man kann sich in der aktuellen Situation so herrlich einrichten. Aber gilt das auch, wenn jemand zwischen Schneematsch und einem gefährlich drängelnden Hintermann eingeklemmt ist? Wie will man sich so eine Gefahrensituation schönreden! Das Erklärungsmuster »Es soll so bleiben, wie es ist, weil es so bequem ist« greift doch hier nicht. Es muss eine andere Erklärung geben, oder?
    Nein, das muss es nicht. Denn auch Ralf ist träge und macht es sich unbewusst bequem. Wer tief in einer festgefahrenen Situation feststeckt, hat viele Gründe dafür, warum es nicht weitergeht. Erklärungen gibt es immer haufenweise, auffallend ist nur, dass es in diesen Deutungsversuchen immer nur darum geht, was die anderen falsch machen. Hätten die Eltern damals einen mehr unterstützt, hätte etwas ganz anderes aus einem werden können. Und der Mathelehrer, der dafür verantwortlich war, dass man in der Oberstufe eine Extrarunde drehen musste, hat letzten Endes nur bewirkt, dass das Wunschstudium in unerreichbare Ferne rückte, weil in dem verlorenen Jahr der Numerus clausus angehoben wurde.
    Erstaunlich, wie selten es heißt: »Wäre ich nur ein bisschen früher da gewesen«, und wie oft: »Hätte der blöde Busfahrer nur noch ein bisschen gewartet, dann hätte ich den Bus noch erwischt«. Selbst hat man nichts dazu getan, in eine dumme oder unangenehme Situation zu geraten. Schuld ist immer der andere! Wie heißt derjenige, der unter den Fehlleistungen anderer zu leiden hat und so ohne eigenes Zutun in eine missliche Lage gerät? Opfer. Für ein Opfer sind immer die anderen der Grund für das eigene Unglück. Die Schuldfrage ist klar geregelt.
    Die Opferhaltung ist bequem, selbst wenn einem der Schneematsch um die Ohren fliegt. Denn sie entbindet einen von der Aufgabe, selbst die Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. Dwight D. Eisenhower, 34. Präsident der USA, hat einmal gesagt: »Die Suche nach Sündenböcken ist von allen Jagdarten die einfachste.«
    Aber was kann so jemand wie Ralf denn tun? Klar ist das eine verdammt unangenehme Lage, in die er sich hineinmanövriert hat. Aber er darf nicht darauf warten, dass irgendein Wunder geschieht – dass der Lkw-Fahrer auf die Bremse tritt (mal ehrlich: Wer viel auf der Autobahn unterwegs ist, weiß, dass Lkws niemals freiwillig langsamer werden) oder dass der Hintermann von allein aufhört zu drängeln und ihm als Kavalier der Straße freien Raum gibt. Da kann er besser darauf hoffen, dass ein plötzlicher Wetterumschwung Schnee und Eis schlagartig tauen lässt … Nein, Ralf muss aktiv werden, Verantwortung übernehmen. Hupen, die Bremse antippen, sodass die Bremsleuchten hektisch aufleuchten – keine Ahnung.
Er
sitzt am Steuer.
Er
muss sich etwas einfallen lassen.
    Doch statt das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und zu agieren, werden nur die Gründe, die einen zum Opfer gemacht haben, und damit die Fehlleistungen anderer endlos aufgewärmt. Wie in einem Samowar köchelt die Vergangenheit vor sich hin, und das Opfer genehmigt sich, wenn draußen wieder ungemütliches Wetter herrscht, gerne von Zeit zu Zeit einen kräftigen Schluck überzuckerten Begründungs-Tee.
Opferbereitschaft
    Als 2001 die Twin Towers in New York einstürzten, reagierten die USA im Opfer-Modus. Die Kriegserklärung an den Irak, der nachgewiesenermaßen eines der wenigen arabischen Länder war, in denen Al Qaida keinen Fuß auf den Boden bekommen hatte, die Vorgänge in Abu Ghraib und die schändlichen

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