Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
lang damit zu verbringen, genau dieses Versagen den Altvorderen so oft es geht unter die Nase zu reiben, das ist doch nur armselig! Spätestens mit zwanzig hört die Kindheit auf! Dann muss man aus dem, was man hat, etwas machen. Nur im Zorn zurückzublicken bringt niemanden weiter, es übertüncht nur die eigenen Mängel.
Aus dem, was war, wird der Strick gedreht, der heute das Opfer fesselt.
Die Harten und die Zarten
Sehen sich denn alle Menschen als Opfer? Das wäre doch zu einfach! Stimmt. Auch wenn meiner Einschätzung nach etwa 95 Prozent der Menschen sich zumindest zeitweise als Opfer gerieren, gibt es auch einen kleinen Teil, der genau das Gegenteil macht: Das sind die Hammerharten. Sie tun so, als ob es ihnen nichts ausmachen würde. Ich nenne diesen Typ: der Chauvi. »Na und? Ich kann mir hier noch tagelang den Schneematsch um die Ohren schmeißen lassen. Und wenn der Hintermann noch so drängelt, das ist sein Problem, nicht meins.« Hört sich cool an, bringt den Hammerharten aber auch nicht weiter. Und erst recht nicht aus der akuten Situation.
Wie ist das denn mit den Eltern, deren einzige Tochter auf Sri Lanka ein Hotel aufmacht? Sie leiden wie ein Hund unter der Trennung, aber sie beschwichtigen sich gegenseitig: »So ist das nun mal. Hauptsache, sie ist glücklich. Und Weihnachten können wir ja mal hinfliegen.« Warum überlegen sie nicht, ob es eine Option sein könnte, einfach mit nach Südostasien zu gehen? Es spricht einiges dafür und einiges dagegen. Nicht jedes Kind, das beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen, ist glücklich, wenn die alten Eltern um die Ecke wohnen. Und vielleicht würde den Senioren das schwül-heiße Klima auch gar nicht guttun. Es könnte aber auch sein, dass ein Umzug die Lösung für viele Probleme wäre – einen richtigen Freundeskreis gibt es sowieso nicht in Deutschland und von der weiten Welt haben sie schon immer geträumt. Solange sie nicht darüber nachdenken, dass es auch ganz anders sein könnte, als in ihrer Dreizimmerwohnung zu hocken und zu vereinsamen, kann es auch nicht wirklich gut werden.
Was wird aus den Hammerharten? Mit ihrer Augen-zu-und-durch-Haltung werden sie verknöchern, einen Burn-out bekommen. Aber nicht glücklich. Sie meinen, alles im Griff zu haben – und gehen darüber kaputt. Genauso wie die Opfer schaffen sie es nicht, die anstehenden Entscheidungen in Angriff zu nehmen.
Egal ob Hammerharter oder Opfer – beide haben es gerne bequem. Der eine fühlt sich in der ihm bekannten Hölle wohler als in einem ihm unbekannten Himmel. Der andere versucht die Hitze der glühenden Kohlen damit zu überspielen, dass er sagt; »Schön kühl hier!« Beide Typen leugnen, dass es ihre Hölle überhaupt gibt. Beide schalten auf stur, sodass alles so bleibt, wie es ist. Beide glauben, die Situation, in der sie eigentlich gar nicht sein wollen, aussitzen zu können. Der eine, indem er jammert und darauf wartet, dass ein gütiges Geschick oder ein freundlicher Mitmensch ihn befreit. Der andere, indem er so tut, als mache es ihm nichts aus. Beide stecken fest. Beide kapieren nicht, dass es an ihnen selbst liegt, sich zu befreien.
Und beide Typen schaffen es nicht, das zu überwinden, was diese Trägheit so mächtig macht. Die Angst davor, in Erscheinung zu treten.
Kalte Füße
Du sitzt in einem guten Restaurant und freust dich auf deinen Lammrücken. Du hast dir auch einen guten Wein dazu bestellt. Das Hintergrundgeräusch im Raum ist angenehm gedämpft. Bis das etwa siebenjährige Kind am Nachbartisch seinen Gameboy herausholt. Während sich seine Eltern angeregt miteinander unterhalten, daddelt der Kleine, was das Zeug hält. Er spielt kein Ballerspiel. Wie jeder Anwesende im Raum mitbekommt, hat er ein Frage-und-Antwort-Programm für Grundschüler auf dem Schirm. Immer wenn er die richtige Antwort gibt, ist eine enervierend fröhliche Computerstimme zu hören: »Deine Antwort ist richtig! Das hast du gut gemacht. Nun die nächste Frage …« Die Eltern haben keinen Blick für ihren hochbegabten Kleinen übrig. Aber alle anderen. Von den Nebentischen hagelt es giftige Blicke. Getuschel. »Da müsste man doch mal …« und »Warum geht denn da keiner mal hin und sagt …«
Es müsste nur ein einziger Gast aufstehen, an den Tisch der Familie herantreten und freundlich darum bitten, dass der Junge sein Spielzeug leiser stellt. Denn so ein Gameboy hat ja auch einen Stumm-Modus. Aber keiner tut es. Alle leiden still vor sich hin, werden um ihr
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