Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
die du kaum herangekommen bist. 1985 fegte dann der Glykol-Skandal über die deutsche und österreichische Weinlandschaft hinweg. Als österreichische Weinpanscher aus Angst vor Beschlagnahmen ihren Wein in die Kanalisation schütteten, brachen die Kläranlagen zusammen. Das war der Tiefpunkt.
Dann war da auf einmal eine ganz neue Winzergeneration. Die hatten die Idee von richtig guten Weinen aus Deutschland. Sie besannen sich auf das handwerkliche Können und die gewachsenen Traditionen. So wie es schon hundert Jahre zuvor einmal war, als deutsche Rieslinge die teuersten Weißweine der Welt waren. Diese neuen Winzer waren überzeugt davon, dass es möglich ist, auf ihren Böden auch etwas ganz anderes als »Liebfrauenmilch« und »Rüsselheimer Schädelspalter« zu produzieren. Natürlich gibt es auch heute noch anonyme Massenabfüllungen. Aber parallel dazu hat sich eine Weinszene herausgebildet, die auf intensive Pflege im Weinberg und ausgefeilte Kellertechnik setzt. Der größere Aufwand und die geringeren Erträge werden durch die höheren Preise, die sich am Markt erzielen lassen, aufgefangen. Aber eben auch durch sensationellen Geschmack.
Was hatte die Umkehr in der deutschen Weinlandschaft gebracht? Es war der Leidensdruck. Um eine Idee wahr werden zu lassen, braucht es neben dem Glauben an die Machbarkeit auch ein starkes Wollen – oder eben einen starken Leidensdruck.
Wenn einer nicht will, dann ist der Leidensdruck noch nicht groß genug. Messis in vermüllten Wohnungen haben zu wenig Leidensdruck. Die finden das zwar sicher nicht gemütlich, aber unumgänglich, jeden Joghurtbecher aufzubewahren. Wenn Mütter ihren 35-jährigen Söhnen immer noch die Hemden bügeln, ist da schlicht zu wenig Leidensdruck, um endlich mal zu sagen: »Steh gefälligst auf deinen eigenen Füßen!« Leider ist das oft selbst bei Mobbing so. Die Gemobbten leiden wie verrückt, manche lassen sich jahrelang durch mieseste Niederträchtigkeiten quälen. Aber warum auch immer, irgendetwas lässt nicht zu, dass der Leidensdruck so groß wird, dass sie dem Mobber eins auf die Nase geben, sich an eine der zuständigen Sozialstellen wenden oder sich zumindest auf die Suche nach etwas Neuem machen. Sie alle machen nicht den ersten Schritt, der sie aus einer unerträglichen Gegenwart in Richtung einer besseren Zukunft bringen würde.
Ich habe bereits von Kodak erzählt. Die haben die erste Digitalkamera als Prototypen vor allen anderen Konkurrenten in den Händen gehalten. Warum haben die dieses Ding nicht gebaut? Offensichtlich war auch hier kein ausreichender Leidensdruck da. Kodak war mit seinen Kleinbildkameras, Diafilmen und Videokassetten Spitze am Markt. Als sie merkten, dass sie untergehen, war es viel zu spät. Der Digitalkamera-Zug war abgefahren.
Das Gegenstück zur Kodak-Geschichte ist der italienische Autobauer Fiat. Anfängliche Erfolge machten Fiat zum größten europäischen Automobilhersteller. Doch dann mussten sie ein jahrelanges Dahinsiechen durchleiden. Mit ihrem Slogan der Siebzigerjahre »Fiat – jede Größe, jede Leistung, von 18 bis 180 PS« stolperten sie von einer Krise in die nächste. Der Versuch, mit dem Fiat Chroma in der Oberklasse Fuß zu fassen, scheiterte kläglich. Die Kompaktwagen Bravo und Brava waren Ladenhüter. Endlich besann sich Fiat auf seine Stärke als Kleinwagen-Spezialist: Mit der Neueinführung des Fiat 500 und der Wiederbelebung der Panda-Modellreihe schafften sie den Turnaround. Indem sie sich auf ihre Stärken besannen, kehrten sie zu ihrer alten Kompetenz zurück. Hier war der Leidensdruck groß genug gewesen, um endlich in die Gänge zu kommen.
Wie sieht es mit deinem Wollen und deinem Leidensdruck aus? Gar nicht so einfach, sich darüber klar zu werden.
Paint the pain
Lebendig begraben.
Menschen halten viel aus. Sie leben in unerträglichen Beziehungen oder auch an Orten, wo niemand sein will. Wie ist es möglich, dass jemand in einer aussterbenden Gegend wohnen bleibt, in der es zwar billigen Wohnraum, aber keine Jobs gibt? Der Letzte macht das Licht aus. Doch anstatt die Koffer zu packen und woanders neu anzufangen, bleibt er dort, wo er ist. Lebendig begraben. Lieber von der Hand in den Mund leben, als ins Unbekannte aufzubrechen. Um den Leidensdruck gering zu halten, werden Menschen zu wahren Lebenskünstlern.
Egal ob dein Motiv Leidensdruck oder ein unbändiges Wollen ist – es kommt immer dann zum Vorschein, wenn sich deine Gegenwart und die Zukunft, so wie du sie
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