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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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war für das, was noch bedacht werden musste. Zum Beispiel, welchen Namen das Kind haben sollte.
     

     
    Was das wohl bringen soll, dachte Pieplow.
    Er nahm das oberste Blatt von dem Stapel, den er verteilen sollte. Neben dem Text schaute Leonie ihn aus großen Augen an. Die Pausbacken waren von der Andeutung eines Lächelns ein wenig nach oben geschoben, der Mund halb geöffnet. Der Ausschnitt des Bildes ließ noch ein Stück rosa-rot-blau geringeltes Babyhemd sehen. Aber Pieplow entdeckte nichts, was anders war als bei allen Säuglingen, die ihren ersten Sommer am Strand verbrachten und keineswegs entführt waren.
    Für ihn jedenfalls sahen so kleine Kinder irgendwie alle gleich aus. Wie Chinesen oder Japaner, in deren Gesichtern ihm auch keine Unterschiede auffallen wollten, was natürlich daran liegen konnte, dass er so sehr vielen Japanern und Chinesen noch nicht begegnet war.
    Er betrachtete Leonies Bild und versuchte, sich ein paar Merkmale einzuprägen. Die Augen waren wirklich sehr groß und fast schwarz wie die von Marie. Das Haar dagegen ein hellblonder Flaum, der über der Stirn so etwas wie eine Locke zu proben schien. Pieplow hoffte, das würde reichen, um Leonie von den Babys zu unterscheiden, denen er möglicherweise begegnete.
    Er fuhr mit dem linken Daumen über die Kante seines Zettelstapels. Zweihundertmal tauchte blitzschnell Leonies Gesicht auf. Wie ein trauriges Daumenkino, in dem sich nicht wirklich etwas bewegt, dachte er. Daran änderte auch der spärliche Text nichts, der beschrieb, wonach man suchte. Vermisst wurde ein Säugling, weiblich, blond, etwa fünf Kilo schwer, bekleidet mit einem kurzärmeligen, rosa-rot-blau geringelten Kinderhemd. Es folgte die Beschreibung eines Rades, Marke Diamant, braungrau, neuer Gepäckträger, chromfarben. Entwendet gegen vierzehn Uhr in Tatortnähe.
    »Ich geh schon mal!«, rief er in den Raum hinein.
    Kästner fuhr weiter mit dem Zeigefinger über die Landkarte und erklärte, wo abends um halb neun auf der Insel am meisten los war. An der Steilküste, in den Häfen, am Boddendeich. Die Kollegen aus Bergen folgten dem tippenden Finger zu konzentriert, um von Pieplow Notiz zu nehmen.
    Er griff nach seiner Uniformmütze. Sein Abschnitt sollte der Seedeich sein, und wo der lag, wusste er schließlich.
    Anfangs kam er gut voran. Zwischen Nationalparkhaus und Zeltkino waren nur wenige Abendspaziergänger unterwegs. Sie nahmen mit ernsten Gesichtern die Zettel entgegen. Kaum einer wollte Genaueres wissen, ein paar Mal sagte jemand »Oh Gott« oder etwas ähnlich Erschrockenes, weil mit dem Foto plötzlich wirklich wurde, was man zuvor nur vom Hörensagen kannte.
    Hinter der Mühle standen die Menschen enger beisammen. Obwohl das jeden Abend so war, wenn die Sonne nur noch wenige Meter über dem Wasser zu schweben schien, wirkte es heute, als seien sie aus ganz anderem Grund dicht auf dem Deich zusammengerückt. Fast alle wussten, was passiert war. Furchtbar, sagten sie. Und: Wer tut so was bloß? Pieplow sah in besorgte Gesichter. Manche Frauen hatten Tränen in den Augen, als sie von dem Blatt mit dem Foto wieder aufblickten. Häufiger als sonst wurden die Kinder gerufen, vor allem die ganz Kleinen, die in der letzten Stunde des Tages noch das erledigen wollten, wozu sie bis dahin nicht gekommen waren. Steine ins abendglatte Wasser werfen oder sie aufditschen lassen. Mit bloßen Händen im Sand buddeln. Stöcke in Quallen pieksen und allein bis zur nächsten Buhne laufen.
    Ein paar Männer machten Vorschläge, wie mit dem Täter verfahren werden sollte, die Pieplow vorsichtshalber überhörte, obwohl ihm sein Schweigen peinlich war. Er fand, es gab dinge, die durfte man nicht unwidersprochen lassen.
    Als einer von ihnen behauptete, früher hätte es solche Verbrechen nicht gegeben, fand er um sich herum nickende Zustimmung.
    Pieplow wunderte sich nicht, dass ihm Kästner einfiel.
    Ein Weißhaariger mit dunkelbraun gegerbter Haut erinnerte sich, dass es früher mal einen Mord auf der Insel gegeben hatte. Das musste in den Sechzigern gewesen sein.
    Seine Frau versuchte, ihn zu bremsen. Was sollte denn das jetzt mit dem Kind zu tun haben?
    Aber ihr Mann wollte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen.
    Pieplow hätte gern auf eine ausführliche Schilderung des Dramas vom Dornbusch verzichtet, in dem ein Stralsunder es mit der besten Freundin seiner Verlobten – na, Sie wissen schon. Die Frau aber verlangte, kaum war die Ekstase vorüber, ein Eheversprechen,

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