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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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war. Jemand hatte Leonie verschleppt, und es musste ein Fremder sein. Niemand, den sie kannte, würde etwas so Grausames tun.
    In den Gesichtern der Polizisten konnte sie lesen, dass sie anderer Meinung waren.
    Jetzt wagte sie ein paar unsichere Schritte auf das Kinderbett zu. Verzweiflung stieg wie ein bedrohliches, Schwindel erregendes Summen in ihr auf, als hätte ein Schwarm Insekten von ihr Besitz ergriffen und sich in Windeseile ausgebreitet, um sie von innen zu zerfressen. Sie war schon jetzt nicht mehr sie selbst und bürdete ihren Schmerz anderen auf, einer Frau, deren Gesicht ihr nichts sagte, wenn sie es im Spiegel sah. Sie fuhr mit der Hand über das glatte Holz des Bettchens. Neben dem Kopfkissen geriet die Schnur der Spieluhr unter ihre Finger. Ein dicker gelber Halbmond mit Augen, Nase und einem roten Mund. Guten Abend, gute Nacht. Der weiße Ring klackte leise gegen die Gitterstäbe, als Marie ihn losließ. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
    Langsam sank sie auf den Stuhl neben Leonies Bett.
    Und wenn er nicht will? Was, wenn niemand, auch Gott nicht, Leonie wieder aufwecken würde?
     

     
    In der Wolfsstunde liegt über der Insel die Stille wie ein Tuch, unter dem alles grau ist. Häuser und Bäume ebenso wie Katzen und Menschen. Erst die Vögel wecken die Hunde und Farben, damit die Welt wieder freundlich und bunt wird.
    In der Wolfsstunde werden die Kinder wach. Sie fürchten sich in dem lichtlosen Grau und brauchen Trost. Eine Hand oder eine vertraute Stimme, eine sanfte Berührung, an der sie merken, dass die Wölfe anderswo sind.
    Hier bei uns können sie gar nicht sein, dachte Marten. Wölfe brauchen tiefe, dunkle Wälder, und die gibt es hier nicht.
    Aber wo?
    Weit weg, Marten. Nicht mal auf Rügen gibt es Wölfe.
    Trotzdem war in dieser frühen Stunde ein dunkler Zauber geblieben, und deshalb wartete er immer, bis die erste Amsel den Lichtstreifen am Horizont meldete.
    Heute wollte er nicht warten.
    Wenn die Männer mit ihren Fotoapparaten zurückkamen, musste er wieder im Haus sein, damit sie ihn nicht wieder erschrecken konnten.
    Einer hatte sogar mehrere Apparate um den Hals gehabt und sie abwechselnd vor sein Gesicht gehalten. Es surrte und klickte, dass Marten ganz schwindelig wurde. Wenn Daniel sie nicht aus dem Garten gedrängt hätte, wären sie vielleicht immer noch da, würden fotografieren und Fragen brüllen, die Marten nicht verstand.
    Was weißt du über Leonie?
    Warum sollte er etwas über Leonie wissen? Sie war Maries Baby, das anfangs ganz winzig, aber jetzt schon viel größer war. Das aus der Brust trank. Darüber konnte Marten nur staunen. Frauen, die Milch gaben, waren etwas Merkwürdiges.
    Marten, wo ist Leonie? Hast du sie versteckt?
    Es waren immer mehr geworden, die mit ihren Fotoapparaten vor seiner Nase herumfuchtelten, bis er ins Haus lief und sich von innen gegen die verschlossene Tür lehnte.
    Marten sah sich vorsichtig um.
    In manchen Häusern gab es schwache Lichter, solche, die man in der Nacht brennen ließ, um sich nicht zu fürchten. Auch bei Fine und Marie war es hell in den Fenstern. Marten machte einen Bogen um das Haus und verschwand lautlos über das freie Stück Wiese.
    Er kraxelte den Deich empor, bis zu der Bank, auf der der alte Steuermann Schluck Tag für Tag saß und das Fahrwasser im Auge behielt. Etwas abseits lag das Schiff, das wie ein Haus benutzt wurde, wie ein grauer Klotz im dunklen Wasser am Deich. Nur dort, wo es von dem hellen Schein einer Lampe beleuchtet wurde, konnte man seine knallgelbe Farbe erkennen, mit der es bei Tag wie ein riesengroßer Papagei zwischen Möwen und Kranichen wirkte. Plötzlich riss Licht ein gewaltiges Loch in die Dunkelheit. Marten zuckte zusammen und musste sich an der Bank festhalten, sonst wäre er hingefallen. Seine Hand klammerte sich an das rissige, feuchte Holz der Lehne. Eben waren die Häuser am Hafen nur Umrisse gewesen, Bootsmasten und Reusenfahnen hatte die Nacht ganz verschluckt. Jetzt konnte er sie so genau erkennen, als wäre es mitten am Tag.
    Zwei Polizeiautos versperrten die Zufahrt zum Hafen, die Polizisten gingen auf und ab, als warteten sie auf etwas.
    Aber mitten in der Nacht kamen keine Schiffe, wenigstens nicht, solange er nachts an den Hafen kam.
    Er ließ die Banklehne los und setzte langsam einen Fuß hinter den anderen. Rückwärts den Deich hinunter war ganz schön schwierig, aber er konnte nicht auf seine Füße gucken. Ganz gebannt musste er immerzu

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