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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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Krankheit, auch bei allem anderen. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte.«
    Umgekehrt, dachte Marie. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Eine arbeitslose Bauingenieurin. Aus Stendal. Wo nicht mal die Männer Arbeit finden. Was täte ich, wenn es dich nicht gäbe?
    »Andere Erbberechtigte gibt es nicht?« Ostwald wollte auf etwas Bestimmtes hinaus.
    Fine zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Keine anderen Erben.«
    Nicht mehr, ging es Marie durch den Kopf. Der Krieg frisst den Mann, und das einzige Kind stirbt an Fieber. Erschrocken hob sie den Kopf, weil sie plötzlich sich selbst sah. Uralt und krank, nach einem Leben ohne ihr Kind. Wie ertrug ein Mensch diese unfassbare Trauer, die niemals vergeht und alles mit Schmerzen begleitet? Eine Wunde, die die Zeit nicht heilt. Marie schlug die Hände vors Gesicht.
    Schöbel stand auf und verließ den Raum. Er kam mit einem Glas Wasser für Marie zurück und hielt ihr ein gefaltetes Geschirrtuch entgegen. Als sie es feucht und kühl an ihrer Stirn spürte, konnte sie wieder gleichmäßig atmen.
    »Ich weiß wirklich nicht, was das Ganze soll!« Wenn Oliver gereizt war, zog er die Oberlippe zusammen, über der sich dann feine senkrechte Fältchen bildeten. »Sie muten uns Ihre sinnlosen Fragen zu, während da draußen irgendein Irrer unsere Tochter hat und weiß der Teufel was alles mit ihr anstellt !« Er schlug mit der Hand auf die Sofalehne, sprang auf, lief vor den Gartenfenstern hin und her und setzte sich wieder.
    Die Polizisten ignorierten seinen Ausbruch. Ostwald wartete, Schöbel schrieb ein paar Zeilen. Dass der Vater die Geduld verlor, vielleicht. Dass seine Trauer ihn nicht niederdrückte, sondern ihn laut und wütend werden ließ. Möglicherweise stand auf Schöbels Block auch, dass es eine Wand zwischen Leonies Eltern zu geben schien. Sie entzog sich dem Arm, den er um sie zu legen versuchte. Sie wechselte vom Sofa in den Sessel hinüber, als ertrage sie keine Nähe.
    »Aber Sie sind nicht aus Stendal?« Mit einer halben Drehung seines massigen Körpers wandte sich Ostwald Oliver zu. In seinem Ton konnte alles Mögliche schwingen. Höflichkeit oder Rücksicht. Vorsichtige Neugier ebenso wie die Langeweile von jemandem, der die Antwort auf seine Frage längst kannte.
    »Nein, wieso?« Marie hörte die Abwehr in Olivers Stimme.
    »Sondern aus Winsen«, fuhr Ostwald ungerührt fort.
    »Da bin ich aufgewachsen, ja. Ich weiß wirklich nicht …«
    »Ich verstehe ihre Anspannung, Herr Eggert«, entschuldigte sich Ostwald, »aber in Fällen wie diesem müssen wir gründlich sein. Äußerst gründlich sogar. Dazu gehört auch, dass wir möglichst alles über die Familie des Opfers in Erfahrung bringen.«
    Marie presste das Tuch vor den Mund, um ein Schluchzen zurückzudrängen, das wie eine Explosion ihren Brustkorb zu sprengen drohte. Das Opfer. Die Polizei hielt Leonie schon für ein Opfer. Das Wort beschwor die Bilder herauf, gegen die Marie verzweifelt rang. Das durfte nicht sein. Das Bild eines toten Kindes ist ein finsteres Omen, ein vernichtender Sog, in dessen Tiefe das Nichts wartete. Leonie durfte nicht das Opfer sein. Marie wollte sich zu anderen Bildern zwingen, zu solchen, in denen das Entsetzen vorüber war und alles gut wurde.
    »Aber bis vor drei Jahren haben Sie in Hamburg gelebt.« Ostwald ließ sich nicht beirren. Ein paar Fragen hatte er noch.
    »Ja. Ich habe dort studiert. Freie Kunst. Am Lerchenfeld, wenn Ihnen das etwas sagt.« Er sah den Polizisten herausfordernd an.
    Ostwalds Gesicht war nicht abzulesen, ob er mit dem Lerchenfeld etwas anfangen konnte.
    »Und davon kann man leben?«, fragte er nur und setzte noch nach: »denn so richtig berühmt sind Sie ja bisher nicht, oder?«
    Es war, als holte das Erschrecken sie in dieses Zimmer zurück, ins Hier und Jetzt mit Fine, Oliver, Schöbel und Ostwald. Mit der Sonne vor den Fenstern und den Feriengeräuschen von der Straße.
    »So richtig berühmt sind Sie ja nicht.«
    Marie spürte, wie sich ihr Körper so anspannte, dass sie sich kaum bewegen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber sie hockte nur da. Mit angezogenen Knien, ein feuchtes, zerdrücktes Geschirrtuch vor dem Mund, kauerte sie in ihrem Sessel und starrte auf ihren Mann. Sie wartete auf die Wut, die sein Gesicht weiß und hart werden ließ. Darauf, dass er seine Tasse gegen die Wand schleuderte oder leise und drohend etwas zischte wie »Pass auf, was du sagst, Marie !«.
    Woher sollte der Polizist auch wissen, welche

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