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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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darin herum, bis ich das klingelnde, vibrierende Handy fand. Es war pink und ziemlich zerkratzt. Das Display leuchtete: Unbekannter Anrufer. Ich klappte das Gerät auf und drehte mich triumphierend zu Jack um. Er sah bestürzt aus, so als wäre ich eben von einer Brücke gesprungen. Ich sagte nichts, lauschte bloß.
    »Camilla?« Eine Männerstimme.
    Ich überlegte kurz. Dann sagte ich: »Hi.« Ich versuchte, ihre Stimme nachzuahmen, die ich heute kurz gehört hatte. Meine Stimme klang jedoch seltsam, irgendwie gepresst. Jack schüttelte den Kopf und stellte sich neben mich. Ich fragte mich, ob er mir das Handy aus der Hand nehmen würde. Dann gab er aber nur ein Schnauben von sich, ging zum Kühlschrank und riss ihn auf. Darin befand sich außer einer Flasche Gray Goose, einer Wasserflasche und einer Schale Limetten nichts.
    »Du kommst zu spät«, sagte die Stimme.
    Der Mann klang barsch, sein Akzent schwer. Ich schwieg, versuchte nicht, besonders gewieft zu sein, wusste einfach nicht, wie ich das Gespräch am besten in Gang halten könnte. Ich hustete, bloß um die nun folgende Stille zu überbrücken. Jack signalisierte mir wild: auflegen! Er ließ den Zeigefinger an der Schläfe kreisen. Du bist verrückt!
    »Und?«, sagte die Stimme. Dahinter hörte ich lauten Autoverkehr. Irgendwo jaulte eine Polizeisirene.
    »Ich habe Probleme.« Ich dämpfte meine Stimme zu einem Flüstern in der Hoffnung, er würde mich so schlechter verstehen.
    Er schwieg eine Weile, und ich dachte schon, er hätte etwas gemerkt und aufgelegt.
    »Aber du kommst?«, fragte er schließlich.
    Ich beschloss, nicht zu antworten.
    »Ich warte auf dich - aber nicht mehr lange. Am Children’s Gate, ja?«
    »Ja.«
    »Hast du die Daten?«, wollte er wissen. »Oder vergeude ich meine Zeit?«
    Ich entschied mich, nicht zu antworten, sondern einfach aufzulegen. Der Mann hatte zwar schroff und fordernd geklungen, trotzdem schien er auf das Treffen erpicht. Camilla besaß etwas, das er brauchte; er wartete immer noch, obwohl sie sich inzwischen sehr verspätet haben musste. Ich dachte an die verblutete Camilla, an ihren kalten Körper.
    Jack nippte Wodka aus einem schweren Kristallglas. Die Eiswürfel klirrten. Er ließ mich nicht aus den Augen.
    »Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte er. Ich stellte fest, dass ich immer noch stand und das Handy anstarrte.
    »Hast du das Geld?«, fragte ich, jäh aus meinen Gedanken gerissen.
    Das Telefonat hatte meine Lebensgeister geweckt. Die Lethargie von eben war verflogen. Ich nahm Camillas Handtasche und kippte den Inhalt auf den Sofatisch.
    »Er hat von irgendwelchen Daten gesprochen«, erklärte ich.
    Jack gesellte sich zu mir. Er runzelte die Stirn, wirkte aber sehr neugierig. Er war Literaturagent, handelte mit Geschichten und wusste eine gute Geschichte mehr zu schätzen als jeder andere.
    Ein billiger Lippenstift, ein Fläschchen Glitzernagellack, eine halb volle Zigarettenschachtel.
    »Kommt darauf an«, sagte er und griff nach dem Lippenstift. Er zog die Kappe ab und drehte ihn heraus, bis sich die rosa Spitze zeigte. Dann steckte er die Kappe wieder auf und warf das Ding auf den Tisch zurück.
    Camillas kitschiges Pailettenportemonnaie quoll über vor U-Bahn-Fahrscheinen und Quittungen - Nagelstudio, Taco Bell, Buchladen. Ich fand ein schwarzes Schminktäschchen mit noch mehr Make-up - Lippenkonturenstift, Wimperntusche, eine kleine, schwarze Puderdose.
    »Du hast es oder du hast es nicht, Jack.«
    Ein kleines Fotoalbum aus Plastik, abgegriffen und so verschmutzt, als läge es seit Ewigkeiten in der Handtasche herum. Ich blätterte darin, und mein Herz wurde schwer. Camilla lächelnd neben einer älteren Frau; ganz offensichtlich eine Verwandte, vielleicht ihre Mutter. Eine junge Frau mit Camillas Augen und Camillas Nase, aber dunkler, nicht ganz so hübsch. Sie hielt ein schlafendes, runzeliges Baby in einer rosa Decke im Arm. Ein kleines Mädchen mit Zöpfen, einem blauen Cordanzug und einer unglaublich süßen Zahnlücke. Ein Foto von einem Mann, in dem ich den vermissten Marcus Raine erkannte. Er saß auf einem Bett, hielt eine Gitarre und lächelte in die Kamera. Er schien verliebt zu sein.
    Der Rest - eine Packung M & Ms, ein Feuerzeug, ein kleiner, mit Herzchen bekritzelter Schreibblock - lag auf dem Tisch verstreut. Die Bruchstücke eines Lebens. Lauter Zeug, das sie gesammelt, gekauft und mit sich herumgeschleppt hatte und das ihr wichtig war. Und nun befand sich das alles im Besitz einer

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