Huete dich vor deinem Naechsten
Frau, die sie nicht einmal gekannt hatte, die sich über ihre Leiche gebeugt, ihren toten Leib berührt und ihre Habseligkeiten mitgenommen hatte.
Ich erinnerte mich an den Revolver, zog ihn aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.
»Hey … hoppla! Was willst du damit?«
Es handelte sich um ein 38er Kaliber. Ich wusste das nur, weil ich einmal einen Polizisten interviewt und er mir so eine Waffe gezeigt hatte. Viele Polizisten tragen diesen Revolver, wenn sie privat unterwegs sind, weil er klein und unauffällig ist. Er wiegt nicht viel und ist wie geschaffen für eine Frauenhand. Meinem Neffen hätte das gefallen. Vielleicht wirst du einen brauchen , hatte er in weiser Voraussicht gesagt.
»Der lag in ihrer Tasche«, sagte ich. »Bekomme ich nun eine Antwort? Hast du das Geld?«
»Dann hatte sie vor, bewaffnet zu der Verabredung zu gehen?« Ich konnte es in Jacks Gesicht sehen: Die Neugier hatte die Oberhand gewonnen.
Er griff nach einem kleinen Objekt, das ich auf den ersten Blick für ein silbernes Feuerzeug gehalten hatte. Als es in Jacks Hand lag, erkannte ich, dass es ein USB-Stick war. Ich wollte schnell danach greifen, aber er riss die Hand zurück.
»Ich habe alles gehört«, erklärte er. »Ich weiß, was du vorhast.«
Wahrscheinlich wusste er es wirklich. Dazu musste man kein Genie sein. Er hielt den USB-Stick hoch über seinen Kopf.
»Aber wie sieht dein Plan aus, was erhoffst du dir von diesem Treffen?«, fragte er. »Wie willst du ihn erkennen, und was wirst du tun, wenn du einmal dort bist?«
So weit hatte ich noch nicht gedacht. Jack hätte es wissen müssen, denn er kannte mich. Er las es mir vom Gesicht ab, verdrehte die Augen und ließ sich in den Sessel zurücksinken.
»Wir sollten uns ansehen, was auf dem USB-Stick gespeichert ist«, schlug ich vor.
»Dazu haben wir keine Zeit«, entgegnete er und stand auf. »Und vielleicht ist es besser, es nie zu erfahren.« Er ging zur Garderobe, griff nach einer abgewetzten, braunen Lederjacke, schlüpfte hinein und setzte sich eine Strickmütze auf.
»Es ist niemals besser, nicht zu wissen. Glaub mir«, sagte ich und streckte die Hand aus.
Er ignorierte mich. »Weißt du überhaupt, was ›Children’s Gate‹ ist?«
Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. Mister »Ich weiß alles über New York«. Es war sein Hobby, ständig erklärte, kommentierte, wies er auf Sehenswürdigkeiten hin. Manchmal fand ich das toll, aber im Lauf unserer langjährigen Freundschaft nervte es mich zunehmend.
»Der Central Park hat zwanzig Eingänge«, erwiderte ich. »Children’s Gate ist der an der Kreuzung 76. Straße und Fifth Avenue.«
Jack hob in gespielter Überraschung die Augenbrauen und nickte anerkennend. »Eins plus«, sagte er und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Das ist nicht weit von hier. Komm, wir gehen und bringen es rasch hinter uns.«
Wie schnell er sich mit seiner neuen Rolle als Komplize und Koautor angefreundet hatte!
»Wir müssen uns die Dateien ansehen«, insistierte ich. »Wenn er so lange gewartet hat, wird er auch noch länger warten.«
Jack schwieg, und ich dachte schon, er würde eine weitere Diskussion beginnen. Aber dann eilte er in sein Büro am Ende des Flurs. Als ich ihn eingeholt hatte, saß er bereits an seinem Computer und schloss den USB-Stick an. Das Büro war noch nicht ganz eingerichtet. Vor dem blitzsauberen Glasschreibtisch thronte ein schwarzer Chefsessel. Auf der Glasplatte standen ein unglaublich schmaler Laptop und eine spindeldürre Halogenleuchte. Die Wände wurden von deckenhohen Bücherregalen verdeckt. Jack war der einzige Mensch auf der Welt, der noch mehr Ausgaben meiner Bücher besaß als ich. Sie füllten seine Regale - amerikanische Ausgaben, ausländische Ausgaben, Taschenbuchausgaben, Buchklubausgaben. All meine Geschichten, meine Fantasien, gebunden und in Sprachen übersetzt, die ich nicht verstehe, Millionen von Wörtern in schöner Verpackung. Ich las meinen Namen in unzähligen Schriftarten und Farben: Isabel Connelly. Nicht Isabel Raine. Nein, nicht gedruckt. Dort, wo ich mich am authentischsten, am lebendigsten fühlte und am meisten ich selbst war - auf der gedruckten Seite - hieß ich nie Isabel Raine. Auf einmal war ich dafür unendlich dankbar.
»Fotos«, sagte Jack.
Ich stellte mich hinter ihn. Meine Knie gaben nach, und ich stützte mich an seiner Schulter ab. Ohne mich anzusehen, stand Jack auf und drückte mich in den Sessel. Er hielt den Blick auf den Bildschirm
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