Huete dich vor deinem Naechsten
überarbeitet.
Als er sich wieder eingekriegt hatte, mailte Grady das Foto an Interpol und an seine Ansprechpartner vom FBI. Er fügte die Bilder vom Anleger hinzu und bat um Unterstützung. Sie teilten sich den Papierkram; er übernahm die Kontoauszüge, Jez die Telefonrechnungen.
»Ich mach das zu Hause. Ich muss ein bisschen schlafen und meinen Kleinen zur Schule bringen«, sagte Jez.
»Er ist zehn. Er ist nicht klein.«
Sie lächelte. »Du klingst wie mein Ex. Er wird immer mein Kleiner sein. Zehn, sechzehn, sechzig - für die eigene Mutter ist man immer klein.«
»Das stimmt«, meinte Grady und dachte an seine Mutter.
Sie knipsten die Schreibtischlampen aus und gingen zusammen zum Ausgang.
»Glaubst du, Shane hat uns alles erzählt?«, fragte Jez.
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Grady und hielt ihr die Tür auf. »Aber dein Auge sieht nicht so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte.« Die Schwellung war schon ein bisschen abgeklungen, und anstatt sich in ein leuchtendes Lila zu verwandeln, war das Blau leicht verblasst.
»Beim Training habe ich schon schlimmere Schläge abbekommen. Nach einer Weile kriegt man nicht mehr so schnell blaue Flecken.«
»Du bist ein Mann.«
Jez lachte wieder. Er brachte sie gern zum Lachen, er wusste selbst nicht, warum.
ZWEIUNDZWANZIG
N achts weinten die kleineren Jungen. Sie versuchten, still zu sein, aber sie wurden immer gehört. Am nächsten Morgen wurden die, die geweint hatten, gnadenlos bloßgestellt. Wer sich wehrte, wurde verprügelt. Kristof hatte geweint, Ivan nicht. Aber niemand wagte, Kristof zu verprügeln, denn alle hatten Respekt vor der Kraft und dem Temperament seines älteren Bruders. Weder Kristof noch Ivan beteiligten sich jemals an der Hänselei der Kleineren.
Selbst heute noch wachte Kristof manchmal in der Nacht auf, weil er glaubte, ein Kind weinen zu hören. Dann rissen Verzweiflung und Einsamkeit eine Wunde in seine Mitte. Manchmal war er wieder der kleine Junge, der seiner Mutter nachweinte. Ivan war ein liebevoller, loyaler Bruder gewesen, oft hatte er Kristof nachts zu sich ins Bett gelassen und ihn morgens vor den anderen geweckt, damit er zurückschleichen konnte. Aber schon nach kurzer Zeit brauchte er Ivans Trost nicht mehr. Er hatte zu weinen aufgehört.
An diesem Morgen war er aufgewacht, weil er im Schlaf die Schmerzensschreie seines Bruders gehört hatte. Er verblutete auf dem Anleger, auf dem er Kristof töten wollte.
»Du hast mich verraten!«, hatte er geschrien. »Du, mein Bruder!«
Die anderen Männer hatte er auf der Stelle erschossen oder verletzt in den Fluss gerollt. Ivan hatte er nur verletzen wollen, es sollte eine Warnung sein. Vielleicht hatte Ivan die Verletzung überlebt, vielleicht hatte er die Zeit zum Nachdenken genutzt und war endlich zur Besinnung gekommen.
»Kristof, du schuldest mir Geld«, hatte Ivan im Auto gesagt. Es schien Monate her zu sein, dabei war seit jenem Moment kaum eine Woche vergangen. Sie hatten Manhattan verlassen und damit auch Isabel und das Leben, das er sich aufgebaut hatte, und fuhren auf der Brooklyn Bridge. Kristof musste an seine Frau denken, wie sie in Joggingklamotten auf der Straße gestanden hatte. Stark, entschlossen und bereit, die Kalorien des eben verzehrten Croissants herauszuschwitzen. Beinahe musste er lächeln.
»Ja«, entgegnete er, »ich habe es für dich aufbewahrt, Ivan. Für die Zeit nach dem Knast.«
»Du bist ja so ein guter Bruder!«, sagte Ivan grimmig und starrte auf die Straße. Er sprach Tschechisch. Der Himmel verfärbte sich dunkelgrau. Es würde schneien.
Ivan schaltete das Radio ein. Er liebte klassische Musik und stellte ganz leise ein Violinkonzert ein, das Kristof nicht erkannte.
»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Darüber, wer die Polizei über die Waffen in unserem Apartment informiert hat, Kristof.«
Das Apartment hatten sie geteilt, aber Kristof hatte seine Sachen abgeholt und sich eine neue Bleibe gesucht, bevor er die Polizei anrief. Er wusste, Ivan würde ihn nie verraten. Er hatte nicht im Mietvertrag gestanden, sein Name tauchte nirgendwo auf, nicht einmal auf der Stromrechnung. Kristof spürte ein Klopfen in der Brust.
»Und?«
»Ich bin nie draufgekommen.«
»Wo fahren wir hin, Ivan?«
Sein Bruder ignorierte ihn. »Und dann bekam ich wenige Tage vor meiner Entlassung Besuch.«
Kristof dachte, es sei besser zu schweigen. Er wusste, wer Ivan besucht hatte.
»Camilla Novak. In die du so verliebt warst, die du um
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