Huete dich vor deinem Naechsten
Telefon hast du gesagt, du hättest selbst Fehler gemacht. Weißt du noch?«
Linda nickte. Sie waren zum ersten Mal seit dem »Vorfall«, wie es alle nannten, allein. Etwas war vorgefallen; ein Mann hatte sich vor ihren Augen erschossen. Linda konnte sich an nichts erinnern außer den Klang ihrer eigenen Schreie. Niemand sollte gezwungen sein, so etwas zweimal miterleben zu müssen. Ihre Psyche war derselben Ansicht und hatte ihr einen Blackout beschert. In ihrer Erinnerung endete der »Vorfall« damit, dass Ben auf der Straße ihren Namen rief.
John Brace hatte sie endlich allein gelassen. Trevor und Emily hielten sich immer noch bei Eriks Mutter auf, wo sie bleiben würden, bis alles geregelt war. Fred befand sich wieder zu Hause und wurde von Margie gepflegt, natürlich mit der Unterstützung von Hausangestellten, die ihn notfalls aus dem Bett heben konnten. Und Isabel war immer noch verschollen.
Sie hatte eine Nachricht hinterlassen und angekündigt, alles wieder in Ordnung zu bringen. Niemand solle sich Sorgen machen. »Linda, mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, alles ins Reine zu bringen. Außerdem schwöre ich, dass ich niemals auf ihn geschossen hätte.« Sie klang unglaublich jung und süß und naiv. Isabel dachte tatsächlich, es ginge ums Geld. Sie dachte, sie könne die Risse in Lindas Familie kitten, indem sie das Geld wiederbeschaffte; und sobald sie es hätte, würde der von allen so ersehnte Heilungsprozess einsetzen.
»Ja, das habe ich gesagt, ich kann mich erinnern«, sagte Linda und sah ihren Mann an.
Sie wollte alles verleugnen, weil sich die Möglichkeit dazu bot. Weil es besser für sie wäre, für ihn. Sie könnte alles abstreiten und das Geheimnis mit ins Grab nehmen, ohne jemals das Gegenteil beweisen zu müssen. Aber plötzlich begriff sie, dass eine weitere Lüge sie noch mehr schwächen würde. Es war an der Zeit, die Wahrheit übereinander zu erfahren und zu akzeptieren, einander mit allen Schwächen und Fehlern zu erkennen und sich dennoch füreinander zu entscheiden. Oder auch nicht. Mehr Lügen bedeuteten nicht weniger Schmerz. Jetzt vielleicht, in diesem Moment, aber nicht auf lange Sicht. Das wollte sie Erik sagen. Sie wollte ihm alles gestehen. Aber er war schneller.
»Dann lass uns neu anfangen, Linda. Wäre das möglich?« Er war vom Sofa aufgestanden, kniete sich nun auf den Boden, nahm ihre Hände in seine und lehnte sich an Lindas Knie. »Wenn wir beide Fehler gemacht haben, uns aber noch lieben, könnten wir doch nach vorn schauen, ohne uns noch einmal umzudrehen und uns gegenseitig Vorwürfe zu machen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber Erik, ich …«
»Ich flehe dich an«, unterbrach er sie, »kannst du mir vergeben, was ich getan habe?«
»Ja, Erik«, sagte sie, drückte seine Hände und schloss die Augen. »Aber auch ich wünsche nur Vergebung.«
»Schon passiert. Sag nichts mehr. Von nun an, von hier aus wollen wir in die Zukunft blicken und versuchen, einander gerecht zu werden. Ohne noch einmal zurückzublicken. Wäre das möglich? Wäre das möglich, Linda?«
Sein Gesicht wirkte so offen, so ehrlich. Er hatte die ganze Zeit von ihrer Affäre gewusst, oder? Sie konnte den Schmerz, das Verständnis und die Vergebung in seinen blauen Augen sehen, ja sogar, dass er nur aus diesem Grund ein Risiko eingegangen war. Er dachte, dass sie sich, wenn er ihr nur die dringend benötigte Sicherheit bot, nicht länger einem billigen Trost hingeben würde. Beschämt senkte sie den Kopf.
Sie hatte es nicht geschafft, ihren Vater zum Bleiben zu bewegen. Aber ihre Familie würde sie zusammenhalten. Sie konnte allen vergeben, sogar sich selbst.
»Ja«, sagte sie nach einer Weile. Sie blickte ihm ins Gesicht. Von hier aus, hatte er gesagt. Natürlich meinte er damit nicht das Loft, aber immerhin hatten sie hier ihre Kinder gezeugt und sich ihre schlimmsten Auseinandersetzungen geliefert. Hier hatten sie sich zum ersten Mal geliebt, hier hatten sie gelacht, bis es weh tat, und sie hatten geweint und einander angeschrien und das Essen gekocht. Im Moment stand ihnen das Wasser zwar bis zum Hals, aber das Loft gehörte immer noch ihnen. Sie dachte an einen von Freds Zen-Sprüchen: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.
»Ja, natürlich ist das möglich.«
Sie trauerte um Ben. Sie hatte ihn gemocht, mit ihm geschlafen und ihn für einen Freund gehalten. Sie fühlte sich an seinem Tod mitschuldig, wie irrational das auch war. Er schien ein sehr kranker
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