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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Mann gewesen zu sein, das wusste sie jetzt. Die Vorstellung, er hätte ihr, Erik oder den Kindern etwas antun können, löschte jede Zuneigung aus, die sie für ihn empfunden hatte. Sie spürte, dass sie trotz ihrer Trauer kaum Mitleid für ihn aufbringen konnte.
    Sie erinnerte sich an die Entfremdung, an die Taubheit, die sie nach dem Selbstmord ihres Vaters gefühlt hatte, als hätte sich ein entscheidender Teil ihres Selbst aufgelöst. Falls sie überhaupt etwas fühlte, war es Wut. Wenn er sie geliebt hätte, hätte er den Vollmond bemerkt und sich daran erinnert, dass die Nacht ihnen gehörte. Er hätte wissen müssen, dass sie ihn entdecken würde. Im Grunde ihres Herzens war sie davon überzeugt gewesen. Aber jetzt begriff sie, dass er an nichts anderes gedacht hatte als an sein eigenes Leid.
    Als sie daraufhin weinend in die Arme ihres Mannes sank, erkannte sie, dass sie sich zum ersten Mal Tränen um den Vater erlaubte. Sie weinte um ihn und um ihr eigenes Leben, das sie fast zerstört hätte, weil sie ihn nicht loslassen konnte.
    Hallo, Mondenschein.
    Auf Wiedersehen, Daddy.
     
    Der Vollmond stand hoch am Himmel, als er in die Einfahrt bog. Erst als er aus seinem neuen Auto ausgestiegen war, einem protzigen, schwarzen Mustang, mit dem er sich über den Verlust von Clara und dem neuen Acura hinwegtrösten wollte, entdeckte er den silbernen Wagen auf der Straße. Er hielt inne, warf einen Blick aufs Nummernschild und wusste, dass sie es war. Im Wohnzimmer seines Reihenhauses brannte Licht. Er hatte sie nie gebeten, den Schlüssel zurückzugeben, weil er immer gehofft hatte, sie käme eines Tages zurück.
    Er öffnete die Haustür und sah sie schlafend auf dem Sofa liegen. Das Licht brannte, im Fernseher lief leise CNN. Sie hatte sich eine Decke aus dem Schrank im ersten Stock geholt. Wenn sie schlief, sah sie aus wie ein Kind, blass und schmächtig. Er blieb auf der Schwelle stehen, das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
    Ein paarmal war er nach Hause gekommen und hatte Licht bemerkt. Sein Herz hatte dann immer einen Sprung gemacht, aber jedes Mal hatte er niedergeschlagen feststellen müssen, dass er vergessen hatte, das Licht in der Küche oder im Schlafzimmer auszuknipsen, bevor er zur Arbeit fuhr.
    Aber nun war sie da. Sie atmete tief ein, seufzte leise und bewegte sich im Schlaf. Er wagte kaum, sich zu rühren, überschlug die Zeit; es war vier Uhr morgens. Wenn sie hier war, wo befand sich dann Sean? Er übernahm keine Nachtschichten mehr, so dass sie keinesfalls unbemerkt aus dem Haus gegangen sein konnte. Wahrscheinlich hatten sie sich nach dem Telefonat, das er mit Sean geführt hatte, fürchterlich gestritten. Vielleicht wusste sie nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Ihre beiden besten Freundinnen waren verheiratet und hatten Kinder. Sie würde nicht mitten in der Nacht bei ihnen auf der Matte stehen und nicht noch einmal das Gesicht verlieren wollen; immerhin war sie bereits einmal geschieden. Sie konnte nicht zu ihren Eltern, deren Nörgeleien und Sticheleien sie nicht ertrug. Ihre Mutter schickte Grady immer noch zu jedem Weihnachtsfest und jedem Geburtstag eine Karte. »Sei geduldig. Sie kommt zurück«, hatte sie unter die letzte gekritzelt. Er bewahrte die Karte in der Kommode neben seinem Bett auf.
    Sie öffnete die Augen, erkannte ihn und setzte sich langsam auf. Er trat ins Wohnzimmer und schloss die Tür.
    »Hey«, sagte er. Er zog den Mantel aus, hängte ihn übers Treppengeländer und setzte sich auf die unterste Treppenstufe, um ihr nicht zu nahe zu kommen. Er entdeckte sein Spiegelbild an der gegenüberliegenden Wand. Er schaute müde und zerzaust aus, und der beinahe tägliche Fast-Food-Konsum hatte seine Taille verschwinden lassen.
    »Du hast ihm gesagt, dass ich dich angerufen habe.« Sie rieb sich die Augen und hob dann die Arme über den Kopf, um sich zu strecken.
    »Es tut mir leid.«
    »Nein, das stimmt nicht.«
    »Okay. Es tut mir nicht leid.«
    Das Zimmer sah noch genau so aus, wie sie es eingerichtet hatte. Sie hatte den weichen, cremefarbenen Teppich ausgewählt, das Wildledersofa, den Flachbildfernseher und die angeschlossenen Geräte. Er zahlte den Kredit immer noch ab. Die Decke über ihren Knien war ein Hochzeitsgeschenk. Weiche Chenille, ihr Lieblingsstoff. In einem Anfall von Missgunst und Geiz hatte er ihr verboten, sie mitzunehmen. Seine Schwester hatte die Decke gekauft, deswegen stand sie Clara nicht zu.
    »Also gut. Habt ihr euch gestritten?«
    Sie kniff die Augen

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