Huete dich vor deinem Naechsten
Ich schüttelte den Kopf.
Er ließ den Kopf hängen und atmete geräuschvoll aus. »Wie dem auch sei, du kannst mir vertrauen. Ich weiß, wozu du mich hier benötigst, und ich werde dir helfen. Du schläfst im Bett. Das Sofa ist ganz bequem.«
»Jack.«
Er streckte den Arm aus und zog mir die Mütze vom Kopf. Dann streichelte er meine Wange. Ich nahm seine Hand, hielt sie fest und schloss die Augen.
»Jetzt ist wahrlich kein guter Moment, um in alten Erinnerungen zu schwelgen«, sagte er. »Wir sollten in Ordnung bringen, was wir in Ordnung bringen können, und den Rest vertagen.«
Ich widersprach nicht und reichte ihm die ausgedruckte Mail. Jack las.
»Dann weiß ich schon, wohin wir morgen fahren. Der Führer kommt um sechs. Wir sollten uns jetzt ausruhen.«
Sie war hübsch. Nicht wie Isabel, deren Schönheit nicht nur von ihrem Gesicht herrührte, sondern von einem inneren Strahlen. Nicht wie Camilla mit ihrer brennenden Leidenschaft. Aber sie war hübsch, wenn auch zu dünn, fast ätherisch mit den deutlich hervortretenden Schlüsselbeinen und den dünnen Handgelenken, die aussahen, als könnten sie brechen wie Zweige. Sie hieß Martina, und er hatte sie in der Cocktailbar des Four Seasons kennengelernt. Sie hielt ihn für eine Zufallsbekanntschaft, aber da irrte sie sich.
Außerdem besaß sie dieses gewisse Etwas, das ihnen allen eigen war. Sehnsucht. Camilla hatte sich danach gesehnt, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, und geglaubt, sie brauche dafür einen Mann und viel Geld. Isabel hatte sich nach der großen Liebe gesehnt, auch wenn sie bei ihrem ersten Rendezvous behauptete, die Suche längst aufgegeben zu haben. Er wusste noch nicht, wonach Martina sich sehnte, aber er konnte an ihrem Blick erkennen, dass sie meinte, es in ihm gefunden zu haben.
Er hatte Verständnis für Sehnsucht. Er fühlte sie selbst, immer schon. Sogar als er sich während der Jahre mit Isabel jeden Wunsch erfüllt hatte, war diese Sehnsucht zu spüren gewesen. Erst in letzter Zeit hatte er begriffen, dass es sich um eine chronische Krankheit handelte, die man lindern, aber nie heilen konnte.
»Was denkst du gerade?«
»Ich denke, dass du von besonderer Schönheit bist. Du bist zart und rein, wie eine Orchidee.«
Sie errötete und senkte den Kopf. »Du Charmeur«, flüsterte sie lächelnd. Sie wehrte sich nicht, als er nach ihrer Hand griff.
Sie liefen über den festlich geschmückten Altstädter Platz, vorbei an den Straßencafés, wo die Leute selbst jetzt im Winter in dicke Mäntel gehüllt unter Heizpilzen draußen saßen. Auf dem Weihnachtsmarkt drängten sich die Besucher. Ein Zigeuner spielte Akkordeon, und ein paar Touristen tanzten mit seinem kostümierten Affen.
Sie schlenderten durch eine schmale Gasse, bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge und erreichten die Karlsbrücke. Kristof konnte sich erinnern, Isabel bei diesem Spaziergang um den Finger gewickelt zu haben, indem er ihr alle Sehenswürdigkeiten gezeigt und die Einheimischen auf Tschechisch angesprochen hatte. Damals war nicht einmal Weihnachten gewesen, aber heute kam ihm die verschneite Szenerie noch märchenhafter vor. Es hätte nicht romantischer sein können. Martina war verzaubert.
Auf der Brücke reihten sich kleine Verkaufsstände mit Holzschnitzereien, Aquarellen und Marionetten aneinander. Während der letzten Jahre hatte Prag sich in einen regelrechten Touristenzirkus verwandelt. Seit dem Ende des Kommunismus entwickelte sich die Stadt rasch weiter, zog jährlich mehr Touristen an. Zuerst war die graue Schicht, unter der sich die Schönheit der Gebäude verbarg, entfernt worden, woraufhin wunderschön verzierte Fassaden in Rosa, Gelb und Orange zu Tage getreten waren. Schmiedeeiserne Tore wurden geöffnet und gaben den Blick in zauberhafte Höfe und Gärten frei.
Unter dem Kommunismus war es den Einwohnern verboten gewesen, die Fassaden zu schmücken. Heute bepflanzten die Leute ihre Blumenkästen vor den Fenstern und setzten instand, was vernachlässigt oder zerstört worden war. Die Wiederauferstehung der Stadt zog Menschen aus aller Welt an. Die Touristen strömten in dieses Juwel Europas. Aber Prag war nicht die Tschechische Republik, und was die Touristen zu sehen bekamen, war nicht Prag.
»Stören die vielen Touristen dich nicht?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.«
»Aber du runzelst die Stirn.«
»Ah«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. »Na ja, vielleicht stören sie mich
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